Eva Streit: Die Itten-Schule Berlin. Geschichte und Dokumente einer privaten Kunstschule neben dem Bauhaus (= ZOOM. Perspektiven der Moderne; Bd. 1), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, 336 S., 59 Farb-, 153 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2717-8, EUR 59,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Aneta Georgievska-Shine / Larry Silver: Rubens, Velázquez, and the King of Spain, Aldershot: Ashgate 2014
Manfred Clemenz: Van Gogh: Manie und Melancholie. Ein Porträt, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020
Matthijs Ilsink / Jos Koldeweij (Hgg.): Hieronymus Bosch. Visionen eines Genies, Stuttgart: Belser Verlag 2016
Angela Vanhaelen: The Wake of Iconoclasm. Painting the Church in the Dutch Republic, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2012
Maria Harnack: Niederländische Maler in Italien. Künstlerreisen und Kunstrezeption im 16. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2018
Karl M. Kapp / Lucas Blair / Rich Mesch: The Gamification of Learning and Instruction Fieldbook. Ideas into practice, Hoboken, NJ: John Wiley & Sons 2014
Winfried Menninghaus: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2011
Martin Dresler (Hg.): Neuroästhetik. Kunst - Gehirn - Wissenschaft, Leipzig: E. A. Seemann Verlag 2009
Die vorliegende, sehr ansprechende Publikation ist aus einer Dissertation entstanden und beleuchtet die Geschichte und den Aufbau der Itten-Schule von 1926 bis 1932.
Äußerst umfassend und in einer ganzheitlichen Sicht beginnt Eva Streit mit der Vorgeschichte und den Stationen, an welchen Johannes Itten selbst ausgebildet wurde. Prägenden Einfluss hatte Adolf Hölzel auf ihn, dessen Anregungen Itten nicht nur weiterentwickelte, sondern über die er hinausging. Auch die Mazdaznan-Bewegung, eine "Lebenskunde", die die Erlösung des Menschen in einer disziplinierten, u.a. vegetarischen Lebensführung sah, prägte Johannes Itten. Die Bewegungsübungen und Atemtechniken dieser Lehre finden sich im Itten'schen Unterricht wieder. Das progressive Vorgehen hatte zum Ziel, die Schüler in eine Art meditativen Zustand zu versetzen, d.h. zu entspannen. Heute sind Entspannungs- und Lockerungsübungen nicht nur vor künstlerischer Betätigung durchaus üblich, stellten jedoch zur Zeit Ittens ein absolutes Novum dar.
Itten sah den Menschen als individuell zu förderndes Einzelwesen, dessen Persönlichkeit, Selbstentfaltung und Kreativität es zu entwickeln galt. Deshalb betrachtete er seine Schüler als gleichwertig und mit Achtung vor ihrem individuellen Potential. Diese auf der Reformpädagogik des beginnenden 20. Jahrhunderts beruhende Auffassung konnte er besonders in Wien festigen, wo er 1917 seine erste Kunstschule eröffnete.
Ein weiteres Kapitel ist dem Unterricht an der Schule in Berlin gewidmet. Hier werden der systematische Aufbau der Ausbildung, wie des zunächst für die Schüler zu durchlaufenden Grundkurses, der Form- und Farblehre und darauf aufbauender immer komplexer werdender Unterrichtsthemen aufgezeigt. Das offene Klima der Schule zeigt sich beispielsweise in der Zusammenarbeit mit Tanzschulen und Bildhauern sowie dem Angebot von innovativen Unterrichtsfächern wie der Tuschemalerei. Auch die Fotoklasse und moderne Ausbildungsthemen wie Schrift und Reklame, die zu dem damals neuen Berufsbild des Werbegrafikers hinführten, zeigen das fortschrittliche, zukunftszugewandte Denken des Schulgründers, das wesentlichen Einfluss auf das künstlerische Schaffen der Schüler hatte.
Itten stellte nicht nur Pädagogen mit entsprechendem formalen Nachweis ein. Als Beispiele sind u.a. Boris Kleint, der im Fach Psychologie promoviert war und der Fotograf Umbo (Otto Umbehr), welcher zwar keinerlei fotografische Ausbildung vorweisen konnte, jedoch ein progressiver Fotograf war, zu nennen. Ihre Auswahl zeigt Ittens Überzeugung, dass es die Person des Pädagogen war, die sich mit ihren Fähigkeiten positiv auf die persönliche und künstlerische Entwicklung der Schüler auswirkte. Mit der Beschreibung der Kinderklassen vervollständigt die Autorin den Blick auf diese damals einmalige Schule, der ein neues Menschenbild zugrunde lag.
Die Inhalte der verschiedenen Unterrichtsfächer und Klassen werden durch zahlreiche Abbildungen von Lehrer- und Schülerarbeiten illustriert. Da die Lehrer in überwiegender Zahl mit Itten und / oder dem Bauhaus verbunden waren - exemplarisch wären Gyula Pap (Grundkurs), Maximilian Debus (Schrift und Reklame) oder Ernst Neufert (Architektur) zu nennen - wird die künstlerische Ausrichtung und Wirkung der Lehrer stets deutlich.
Das dritte Kapitel widmet sich weiteren, zur Zeit der Itten-Schule tätigen Berliner Kunstschulen. Durch diesen Bezug und stetiges Referenzieren auf Kontexte wie das Bauhaus, die o.g. Mazdaznan-Bewegung oder das Studium an Akademien, wird ein reiches Bild der Itten-Schule sowie ihrer künstlerischen Ausrichtung, Wirkung und Bedeutung gezeichnet.
Das Buch schließt eine Lücke in der Beschreibung der künstlerischen und kunstpädagogischen Arbeit von Johannes Itten. Bisher am besten erforscht und beschrieben ist seine Tätigkeit am Bauhaus, die zeitlich unmittelbar davor liegt. Die Autorin macht die Person Johannes Ittens durch die Beschreibung seiner vielfachen Tätigkeiten für den Leser greifbar. Aufgrund des Geistes, der an seiner Schule herrschte, konnten sich die Schüler künstlerisch frei entwickeln. Ittens Ziel war es, sie zu "schöpferischen Generalisten" auszubilden, die ihr Gefühl, ihren Verstand und ihre Sinne gemäß ihrer Persönlichkeit einzusetzen vermochten, um dadurch individuelle Kreativität und künstlerisches Gestalten zu erlangen.
Itten war nicht nur Kunstpädagoge, sondern auch erfolgreicher Unternehmer. Zu seinem Marketing gehörten beispielsweise Schul- und Wanderausstellungen, Kooperationen mit anderen Schulen, zahlreiche Vorträge, die u.a. der Akquise von Schülern dienten, überregionale Zweigstellen seiner Kunstschule in Hamburg und Hannover, sowie Verbindungen nach Japan. Zeitungsausschnitte über seine Öffentlichkeitsarbeit ließ er von mehreren Agenturen sammeln, um seine Aktivitäten möglichst lückenlos zu dokumentieren.
Itten war - im Gegensatz zu Gropius - der Überzeugung, dass Kunst lehrbar sei. Dies fand in der starken Strukturierung des Unterrichts ihren Niederschlag. Als weiterer Baustein in der Lehre von Kunst stand das Menschenbild, das seinen Ursprung in der Reformpädagogik hatte. Diese beiden Komponenten, vereinigt in der Person Johannes Ittens, der es außerdem verstand, seine Überzeugung unternehmerisch umzusetzen, werden in diesem bereichernden und lesenswerten Buch überzeugend dargestellt. Damit wird der Itten-Schule ein eigener Raum gegeben, der sie deutlich vom Bauhaus und weiteren künstlerisch-gestalterischen Ausbildungsmöglichkeiten abgrenzt.
Sabine Scherz