Ralf Behrwald / Christian Witschel (Hgg.): Rom in der Spätantike. Historische Erinnerung im städischen Raum (= HABES. Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien; Bd. 51), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 410 S., 44 s/w-Abb, 9 Tabellen, ISBN 978-3-515-09445-0, EUR 62,00
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Der hier zu besprechende Sammelband enthält die Ergebnisse eines am 7. und 8. Juli 2006 in Heidelberg abgehaltenen Kolloquiums, welches das Ziel hat, den "vielschichtigen mentalitäts-, sozial- und religionsgeschichtlichen Prozessen in einer Phase starken Wandels" (7) der Stadt Rom in der Spätantike nachzugehen. Aufgrund eines längerfristigen Redaktionsprozesses befinden sich die Beiträge auf dem Stand von 2008/9; spätere Ergänzungen sind jedoch gelegentlich aufzufinden (siehe beispielsweise 33, Anm. 3).
Enthalten sind darin (den einleitenden Beitrag mit eingerechnet) 15 Aufsätze, davon jeweils sechs in deutscher und englischer, zwei in französischer und einer in italienischer Sprache. Die Vielseitigkeit der Beiträge erschöpft sich darin jedoch nicht: Die Schwerpunkte der einzelnen Aufsätze umfassen Archäologie, Epigrafik, Literaturgeschichte, Geschichte des politischen Denkens und Handelns sowie Religionsgeschichte; lediglich die Numismatik bleibt weitgehend unbeachtet.
In ihrem einleitenden Beitrag bieten die Herausgeber Ralf Behrwald und Christian Witschel ("Historische Erinnerung im städtischen Raum: Eine Einführung", 13-29) eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Gedächtnisgeschichte (Warburg, Halbwachs, Asmann, Nora, Alcock) und skizzieren die Wandlungen im Rom der Spätantike.
Sebastian Schmidt-Hofner ("Trajan und die symbolische Kommunikation bei kaiserlichen Rombesuchen in der Spätantike", 33-59) analysiert die kaiserlichen Rombesuche der Spätantike und ihr exklusives Zeichensystem, das in einem klaren Gegensatz zum kaiserlichen Selbstverständnis und dem Handeln in den übrigen Teilen des Reiches steht. Schmidt-Hofner sieht diesen Gegensatz dadurch als vereinbar, dass sich der Kaiser bei den Rombesuchen in die Tradition Trajans als Modell der civilitas stellen kann und auf eine gegenseitige Loyalitätsbekundung zwischen Senat und Kaiser hingearbeitet wird.
Richard Lim ("Inventing secular space in the late antique city: Reading the Circus Maximus", 61-81) arbeitet den dynamischen und situationsbedingten Prozess der Entsakralisierung der Spiele heraus. Konnte Tertullian in de spectaculis noch eine Verbindung zwischen Circus und Götterkult herstellen, findet in Übereinstimmung der Interessen von Kaiser und Eliten in der Spätantike eine deutliche Trennung statt. Als ergänzendes Argument ließe sich zudem noch die klare Abneigung des überzeugten Heiden Julian gegen derartige Veranstaltungen anführen (Ep. 84a Bidez 430B, Misop. 351D-352A, 365D)
Robert Coates-Stephens ("The walls of Aurelian", 83-109) stellt die vorhandenen Belege zur aurelianischen Mauer zusammen, verweist auf das Problem der späteren baulichen Ergänzungen und diskutiert die taktische und psychologische Bedeutung der Mauer für die Bevölkerung Roms.
Carlos Machado ("Between memory and oblivion: The end of the Roman domus", 111-138) widmet sich dem Ende des römischen domus, das er als nicht gleichbedeutend mit dem Verschwinden der aristokratischen Häuser in Rom ansieht. In diesem Beitrag weist er unter anderem auch auf die praktischen Probleme der Nutzung bei dem Verschenken von Häusern an die Kirche hin.
Valérie Fauvinet-Ranson ("Le paysage urbain de Rome chez Cassiodore: Une christianisation passée sous silence", 139-151) untersucht die Darstellung der heidnischen Aspekte Roms bei Cassiodor und kommt zu dem Schluss, dass dessen Schilderung weder betont heidnisch noch betont christlich, sondern weitgehend neutral und säkular ist; Vitiello weist in seiner Rezension (siehe Anm. 2) noch ergänzend auf die Darstellung bei Prokopios, die diese These zusätzlich stützt, hin.
Franz Alto Bauer ("Saint Peter's as a place of collective memory in late antiquity", 155-170) zeichnet die Entwicklung der Peterskirche zu einem Wallfahrtsort und Bezugspunkt der kollektiven Erinnerung in der Spätantike nach.
Beat Brenk ("Kirche und Strasse im frühchristlichen Rom", 171-191) zeigt die unterschiedlichen Motive für die Gründung und Einrichtung von Kirchenbauten auf: SS. Cosma e Damiano, die Kirche für die beiden Arztheiligen, sollte einen Ersatz für die mit dem Forum verbundenen antiken Heilkulte bilden, S. Vitale und SS. Giovanni e Paolo diente der Demonstration der Christlichkeit von reichen Privatpersonen und mit S. Paolo fuori le mura fand eine kaiserliche Förderung des als vernachlässigt erachteten Pauluskultes statt.
Steffen Diefenbach ("Urbs und ecclesia - Bezugspunkte kollektiver Heiligenerinnerung im Rom des Bischofs Damasus (366-384)", 193-249) sieht die Märtyrerverehrung des Damasus weder in der Christianisierung der Stadt Rom noch in der Romanisierung der christlichen Gemeinde Rom begründet. Das Ziel sei eine Ausdehnung des identitätsstiftenden Raumes der ecclesia und eine Integration der Märtyrer in als römische Bürger seine Gemeinde.
Zu anderen, aber nicht damit unvereinbaren Ergebnissen gelangt Marianne Sághy ("Renovatio memoriae: Pope Damasus and the martyrs of Rome", 251-265). Nach ihr soll mit der Propagierung der Erinnerung an die Märtyrer eine Politik der Einheit der Kirche gefördert werden. Der von Damasus beklagte Prozess des Vergessens der Märtyrer sei als rhetorische Strategie im Rahmen der Konkurrenzsituation anzusehen.
Ralf Behrwald ("Heilsgeschichte in heidnischer Szenerie: Die Denkmaltopographie Roms in der christlichen Legendenbildung", 267-289) untersucht die topographischen stadtrömischen Angaben der christlichen Heiligenviten. Er zeigt, dass die entsprechenden Notizen (und verwandte Angaben wie beispielsweise die prosopographischen zu den Stadtpräfekten) ausgesprochen unzuverlässig sind, was auch in dem geringen Interesse der Verfasser, ihre Erzählungen topographisch zu verankern, begründet sei. Bei derartigen Angaben handele es sich um literarische Mittel, die das Ziel haben, dem Text Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Silvia Orlandi ("Passato e presente nell'epigrafia tardoantica di Roma", 293-307) analysiert die Bedeutung der Vergangenheit in den Inschriften Roms, wobei sie ihren Schwerpunkt auf die Wiedererrichtung von Bauten legt.
John Weisweiler ("Inscribing imperial power: Letters from emperors in late-antique Rome", 309-329) untersucht die im Rahmen von zu Ehrenstatuen gehörigen Inschriften überlieferten kaiserlichen Briefe, die erst in der Spätantike als Phänomen auftreten. Weisweiler führt diese Entwicklung darauf zurück, dass Rom nicht mehr die Hauptresidenz des Kaisers ist, so dass die Senatoren sich darum bemühen, die räumliche Entfernung mit einer Betonung ihrer Nähe zum Kaiser auszugleichen.
Philippe Bruggisser (""Sacro-saintes statues": Prétextat et la restauration du portique des Dei consentes à Rome", 331-356), dessen Ausgangspunkt die Inschrift CIL VI 102 = ILS 4003 (worin Praetextatus die Wiederherstellung von sacrosancta simulacra berichtet) ist, bietet eine ausführliche Untersuchung zur Begriffsgeschichte von sacrosanctus, die ihn zu dem Ergebnis führt, dass sacrosanctus in der Spätantike nur noch selten mit dem Kult in Verbindung gebracht wird.
Christian Witschel ("Alte und neue Erinnerungsmodi in den spätantiken Inschriften Roms", 357-406) zeigt, welche Bedeutung Inschriften als strukturierendes Element im Stadtbild des spätantiken Rom hatten und demonstriert den konservativen Grundzug in der epigraphischen Kultur Roms. Der Prozess der Etablierung einer neuen christlich geprägten Erinnerungskultur sei nicht als Kompromiss, sondern als von Konflikten begleiteter Prozess anzusehen. Ein Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Erinnerungsmodi sei möglich gewesen, die fließenden Übergänge sprächen aber gegen eine strikte Trennung zweier unterschiedlicher Erinnerungswelten von Christen und Heiden.
Die einzelnen Beiträge sind sorgfältig, kompetent und bieten wertvolle Anregungen für weitere Forschungen. [1] Besonders erfreulich ist dieses Werk jedoch in seiner Gesamtheit: Nicht vielen Sammelbänden gelingt es, nicht nur im Titel ein Thema zu finden, das ausreichend speziell ist, um auch aussagekräftig zu sein (ein Band mit etwa dem Titel "Studien zur spätantiken Stadtgeschichte" kann sich hingegen ebenso als Fundgrube wie als vollkommen unergiebig für die eigenen Forschungen erweisen), sondern auch dieses Thema in den einzelnen Beiträgen tatsächlich konsequent einzuhalten. Noch seltener ist es, dass die Beiträge zugleich in ihren Schwerpunkten so breit gefächert sind, dass dennoch die gesamte Bandbreite der Altertumswissenschaften berücksichtigt ist. Der hier rezensierte Sammelband kann dieses Verdienst für sich beanspruchen und ist somit als ausgesprochen gelungener Beitrag anzusehen. [2]
Anmerkungen:
[1] Lediglich einige kleinere Versehen fielen auf: Dass P. Fay. 20 einem Kaiser des vierten Jahrhunderts - meist wurde Julian angenommen - zuzuweisen ist (44), wird heute nicht mehr vertreten; tatsächlich dürfte es sich um ein Edikt des Severus Alexander handeln. 45, Anm. 59 "Athalaric" (richtig "Athalarich"); S. 197 "Ende des 5. Jahrhunderts" (richtig "Ende des 4. Jahrhunderts"); 384, Anm. 137 "Virgilius" (richtig "Vigilius"); 391 "Valentianus" (richtig "Valentinianus").
[2] An älteren (klar positiven) Rezensionen war zu finden: Diederik Burgersdijk, in: Bryn Mawr Classical Review, Oktober 2013, Nr. 72 (http://bmcr.brynmawr.edu/2013/2013-10-72.html); Lucy Grig, in: Historische Zeitschrift 298 (2014), 455-456; Jochen Haas, in: Trierer Zeitschrift 75/76 (2012/13), 489-491; Isabelle Künzer, in: Historisch-politisches Buch 61 (2013), 375-376; Ulrich Lambrecht, in: Journal für Kunstgeschichte 17 (2013), 230-234; Silke Nippert, in: Praxis Geschichte 2014/1, 54; Massimiliano Papini, in: Bonner Jahrbücher 212 (2012), 507-511; Mirjana Sanader, in: Arctos 46 (2012), 314-315; Joachim Szidat, in: Museum Helveticum 70 (2013), 245; Massimiliano Vitiello, in: Klio 96/2 (2014), 764-767; Jasmin M. Widauer, in: Tyche 28 (2013), 223-226.
Raphael Brendel