Hiram Kümper: Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 380 S., ISBN 978-3-8252-8605-7, EUR 29,99
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Hiram Kümper verfolgt mit seiner Einführung zu den Historischen Hilfswissenschaften nach eigenen Worten eine "Mission", nämlich "Studierende mediävistischer Disziplinen dazu an[zu]regen, materialgeleitet zu argumentieren, und ihnen den Einstieg in die dafür benötigten handwerklichen Fähigkeiten [zu] ebnen." Sein Buch soll in erster Linie dem Selbststudium dienen, den "Einstieg erleichtern und die Faszination für die Vielfalt historischer Materialien wecken", aber ausdrücklich "ein Lern-, und kein Lehr-, schon gar kein Handbuch sein" (7f.).
Nach dem Vorwort zu "Anliegen und Anlage dieses Buches" und einem einleitenden Kapitel "Material und Mediävistik" (zu den Historischen Grund- bzw. Hilfswissenschaften im Allgemeinen, Quellenkunde und Arbeit im Archiv, 11-25) folgen vier Kapitel, in denen verschiedene Disziplinen zusammengefasst werden: "Lesen und Schreiben" (zu Diplomatik, Paläografie, Kodikologie, Inkunabelkunde und Epigrafik, 27-191), "Zählen, Rechnen und Verzeichnen" (zu Metrologie, Numismatik und Chronologie, 193-228), "Sehen und Beschreiben" (zu Ikonografie und Ikonologie, Kartografie sowie Realienkunde, 229-277) und schließlich "Menschen und Beziehungen" (zu Genealogie, Heraldik, Titulaturenkunde, Insignienkunde und Phaleristik, 279-312).
Am Beginn dieser Hauptkapitel steht jeweils ein gerahmtes Textfeld: "Was Sie in diesem Kapitel erwartet", sie sind geteilt in Unterkapitel, die weiter untergliedert werden durch fettgedruckte Zwischenüberschriften. Der Haupttext wird zusätzlich durch Marginaltitel strukturiert und durch zahlreiche Abbildungen, Tabellen und Anwendungsbeispiele aufgebrochen. Hervorgehoben durch grau hinterlegte Balken sind die an vielen Stellen eingefügten Exkurse und Literaturhinweise. Letztere stehen meist am Ende der Haupt- und Unterkapitel und enthalten neben Einführungs- und weiterführender Literatur auch Hinweise zu Onlineversionen von Handbüchern und Lexika, sowie aktuellen Forschungs- und Digitalisierungsprojekten, die sicherlich nicht nur für Studierende sehr interessant und hilfreich sind. Weitere Verweise zu Nachschlagewerken und Internetseiten finden sich auch immer wieder im Fließtext.
Die Anmerkungen stehen als Endnoten im Anhang (313-327), ihnen folgen ein umfangreiches alphabetisches Verzeichnis der zitierten Literatur (329-372, ohne Wiederholung der schon im Text erwähnten Titel) und eine Auflistung der meisten Abbildungen (373-376), die oft knappe Bezeichnungen, seltener die Herkunft der Abbildungen enthält.
Das Inhaltsverzeichnis führt die Überschriften der Haupt- und Unterkapitel auf, leider nicht die vielen Zwischenüberschriften. Nützliche Hilfsmittel wie die Tabellen von häufigen Abkürzungen (72-75), regionalen Markgewichten (206) oder Etymologien für Orts- und Flurnamen (264f.) sowie Literatur- und Linklisten sind deshalb schwer wiederzufinden.
Das Ziel, einen einfachen Einstieg zu bieten und Interesse zu wecken, erfüllt das Buch aufgrund der abwechslungsreichen Gestaltung sehr gut: Beim Durchblättern bleibt der Blick immer wieder an Titeln, Tabellen und Abbildungen hängen, die Lektüre ist kurzweilig. Der Zugang zu den Quellen ist überwiegend pragmatisch, "klassische" Handbuchinhalte wie die astronomischen Grundlagen der Kalenderrechnung werden zum Teil ausgeklammert (213), stattdessen wird z.B. eine Ostertagsberechnung mit dem Grotefend (218) oder eine "Beispielrechnung auf dem Rechentisch" (195) vorgeführt.
Wo möglich, wählt Kümper einen Zugang vom Allgemeinen zum Speziellen. Die Leser sollen etwa "nicht erst Schriftgeschichte pauken müssen" (8), bevor sie sich im Entziffern üben, sondern durch ein praktisches Beispiel an die Thematik herangeführt werden: Das Unterkapitel zur Paläografie ("Lesen lernen: von der Paläotypie zur Paläographie", 51-84) beginnt mit einem Textausschnitt in Frakturdruck, der zunächst buchstabengetreu unter Beibehaltung von langem s, übergeschriebenen Vokalen und horizontalen Kürzungsstrichen transkribiert wird. Hiervon ausgehend werden die Unregelmäßigkeiten mittelalterlicher Orthografie und Zeichensetzung erläutert und einzelne Kürzungszeichen angeführt. Nach einem weiteren Beispiel behandelt der Autor Superskripte und gibt praktische Hinweise zu deren Transkription, erst dann erfolgt ein "Schnelldurchgang durch die Schriften des Mittelalters".
Bei diesem Schnelldurchgang sind allerdings "Kanzleischrift" und "Kurrent" durcheinander geraten: Neben dem Absatz zur "Kanzleischrift" sind einige Zeilen Kurrentschrift abgebildet, neben "Kurrent" steht ein Schriftbeispiel in Kanzlei, mit einer ersten Zeile in Fraktur, die unerwähnt bleibt. Die jeweiligen Beschreibungen passen zwar zu den Abbildungen, jedoch nicht zur gängigen Definition der Schriftarten. [1] Da die Quellen der Abbildungen nicht genannt werden und keine Anmerkungen vorhanden sind - es gibt lediglich Verweise zu weiteren Beispielen in den Tafelwerken von Steffens [2] sowie Arndt und Tangl [3] -, lässt sich der Ursprung dieses Missverständnisses nicht nachvollziehen.
Ein weiteres Missverständnis liegt vermutlich beim Begriff "Notariatsinstrument" vor, den der Autor anscheinend nicht auf eine Urkunde bezieht, sondern nur auf die notarielle Unterfertigung (Signet und Unterschrift), wenn er es als "besondere Form der Beglaubigung" bezeichnet, die "am ehesten dem Vidimus [...] vergleichbar" sei (136).
Neben diesen Ungenauigkeiten lassen sich durchgängig Uneinheitlichkeiten und Fehler in den Beispieltranskriptionen feststellen, z.B. "dann" doppelt transkribiert (14); "Montari" statt "Montani", "Antwerpie" statt "Antuerpiae" (78); "ziehen" und "gehen" statt "ziehn" und "gehn" (81); "semp(eriter)nam" statt sempit(er)nam", "mag(is)" statt "n(ost)ri", "com(m)univi" statt "co(m)muniri" (104); "LVCERNENSIUM" statt "LVCERNENSIVM" (Siegelumschrift, 129); "tweintich" statt "twintichste" (198); "demer" statt "deiner", "ligs" statt "sigs" (246). Weitere Lesefehler in diesen und anderen Transkriptionen (109, 143, 150, 183, 198, 225) ließen sich nennen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass "Materialwissenschaft Mediävistik" seine Absicht, einen leichten Einstieg zu bieten, erfüllt. Durch das Layout und die Berücksichtigung von Onlineangeboten wirkt es moderner und aktueller als der Klassiker "Werkzeug des Historikers" [4], es ist praxisorientierter und bezieht mehr Disziplinen mit ein. Auf schwere Theorie wird nach Möglichkeit zugunsten leichter, pragmatischer Zugangsweisen verzichtet, im Detail allerdings auf Kosten der Genauigkeit. Der eigentlichen Zielgruppe des Buches, den Einsteigern, die sich nur einen groben Überblick verschaffen und Hinweise zur Vertiefung finden wollen, fallen diese Details wahrscheinlich nicht auf. Dennoch - oder gerade deshalb? - kann am Ende dieser Rezension trotz der gefälligen Gestaltung leider keine uneingeschränkte Empfehlung stehen.
Anmerkungen:
[1] Z.B. Friedrich Beck: Schrift, in: Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, hgg. v. Friedrich Beck / Eckart Henning, 5. Aufl., Köln u.a. 2012, 225-176, hier: 255f.
[2] Franz Steffens: Lateinische Paläographie. 125 Tafeln in Lichtdruck mit gegenüberstehender Transkription nebst Erläuterungen und einer systematischen Darstellung der Entwicklung der Schrift, Leipzig / Berlin 1929, Onlineversion: http://www.paleography.unifr.ch/schrifttafeln.htm [4.5.2015].
[3] Wilhelm Arndt / Michael Tangl: Schrifttafeln zur Erlernung der lateinischen Palaeographie (3 Hefte), Berlin 1904-1907, Onlineversion: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/4108548 [4.5.2015].
[4] Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, 18. Aufl., mit aktualisierten Literaturnachträgen und einem Nachwort von Franz Fuchs, Stuttgart 2012.
Magdalena Weileder