Miriam A. Bader-Gassner: Pipelineboom. Internationale Ölkonzerne im westdeutschen Wirtschaftswunder (= Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa; Bd. 3), Baden-Baden: NOMOS 2014, 342 S., ISBN 978-3-8487-1498-8, EUR 69,00
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In ihrer an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Georg-August Universität Göttingen entstandenen und von Jan-Otmar Hesse betreuten Dissertation beschäftigt sich Miriam Bader-Gassner mit dem Auf- und Ausbau des westeuropäischen Pipelinenetzes in den Jahrzehnten des ökonomischen Nachkriegsbooms und hier vor allem mit dem Bau der Central European Line (CEL) und der Transalpine Pipeline (TAL). Die Arbeit fügt sich damit in ein jüngst gewachsenes Forschungsfeld zur Energie- wie auch zur transnationalen Technik- und Infrastrukturgeschichte ein. Geschickt verweist der ambivalente Titel sowohl auf den Boom der Pipeline selbst als kostengünstiges Transportmittel für Öl und Gas als auch auf die Bedeutung dieser Energieträger als Nähr-, wenn auch nicht als Zündstoff des Wirtschaftsbooms (Hansjörg Siegenthaler). Die Autorin beschäftigt sich jedoch weniger im zweiten Sinn mit der Bedeutung der Pipelines für die Entwicklung der bundesdeutschen und westeuropäischen Energiewirtschaft als vielmehr mit den Gründen für ihre Konstruktion und den Aushandlungsprozessen, die ihren Bau begleiteten. Dabei interessiert sie sich vor allem für die Interaktion zwischen den großen multinationalen Ölkonzernen und dem italienischen Staatskonzern Ente Nazionale Idrocarburi (ENI), der Bunderegierung und der bayerischen Landesregierung mit ihrem umtriebigen Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr Otto Schedl sowie den Akteuren der Zivilgesellschaft, die Landschaften und die lokale Wasserversorgung durch Pipelines in Gefahr sahen. Ihre Ausführungen stützen sich neben der staatlichen Überlieferung vor allem auf die Unternehmensarchive von ENI und British Petroleum (BP), zeitgenössische Expertisen und ältere Forschungsliteratur zur Entwicklung des Ölmarktes.
Die Entscheidung für den Bau von Pipelines, die in Europa später als in den USA erfolgte, interpretiert Miriam Bader-Gassner als Folge der hier ebenfalls zeitversetzten Strukturveränderungen der Energiewirtschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der rasant wachsende Energieverbrauch der westlichen Industrienationen speiste sich nun zunehmend aus Erdöl, das die Kohle als wichtigsten Primärenergieträger ablöste. Mit der Zunahme des Ölverbrauchs boten sich Pipelines als langfristig kostengünstigere Transportmöglichkeit an. Nachdem 1958 die Nord-West-Ölleitung von Wilhelmshaven nach Köln in Betrieb genommen worden war, bemühte sich ENI unter der Leitung von Enrico Mattei um den Bau einer Pipeline zunächst von Genua nach Ingolstadt. Zeitgenössischen Selbst- und Fremddeutungen folgend, sieht Bader-Gassner dies als Teil von Matteis Strategie, die oligopolistische Kontrolle des Ölmarktes durch die multinationalen Ölkonzerne, die sogenannten "Seven Sisters", herauszufordern (55-58). Während ENI diese Pipeline tatsächlich allein fertigstellte, ging der Bau der TAL von Triest nach Ingolstadt, die 1967 in Betrieb genommen wurde, dann allerdings angesichts der Erfahrung der mit dem Bau verbundenen Belastungen von einem Zusammenschluss von ENI mit BP, Esso, Mobil, Shell und einigen deutschen Unternehmen aus (86, 221).
Nach der Darstellung der energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Pipelinebaus untersucht Bader-Gassner die Rolle des Staates im Pipelineboom. Dabei beschäftigt sie sich ausführlich mit den Kompetenzkonflikten zwischen dem bundesrepublikanischen Verkehrs- und dem Wirtschaftsministerium. Aus diesen ging das Wirtschaftsministerium, das grundsätzlich für einen möglichst freien Energiemarkt und gegen eine Reglementierung des Pipelinebaus eintrat, als Sieger hervor. Allerdings versteht Bader-Gassner die Einführung einer Meldepflicht für Rohrleitungen Mitte der 1960er-Jahre als Beleg für den Einfluss des Verkehrsministeriums. Für den Bau der CEL rekonstruiert die Autorin die Bedeutung des CSU Politikers Otto Schedl, der sich vom Pipelinebau wichtige wirtschaftliche Impulse für das rückständige und energiepolitisch vom Norden abhängige Bayern versprach, sowie Hjalmar Schachts, der als Matteis Verbindungsmann in Deutschland agierte und mit ihm das Ziel teilte, die Verlierernationen des Zweiten Weltkriegs unabhängiger vom US-amerikanischen Einfluss zu machen (160). Zur für ENI dramatischen Kostenexplosion der CEL führten, laut Bader-Gassner, die erhöhten Sicherheitsauflagen, die sie auf die Proteste der Bodenseegemeinden zurückführt (170-183, 207-210). Auch gegen den Bau der TAL erhob sich Bürgerprotest, den Bader-Gassner ausführlich untersucht, wobei die Ölfirmen diesmal eine Haftungsbegrenzung bei Umweltschäden durchsetzen konnten.
In ihrem Fazit sieht die Autorin durch ihre fakten- und materialreiche Schilderung im Wesentlichen bekannte Positionen zur Energie- und Umweltgeschichte bestätigt wie etwa von Rainer Karlsch und Raymond Stokes, Ute Hasenöhrl, Joachim Radkau und Frank Uekötter. Entsprechend erzeugt auch die Lektüre des Buches wenig Überraschungen. Zwar werden die Realisationsbedingungen und Schwierigkeiten technischer Großprojekte am Beispiel der CEL und der TAL minutiös geschildert, aber man fragt sich streckenweise, ob man diese Dinge so genau wissen muss, wenn sie keine Erwartungen korrigieren. Dieser Eindruck resultiert vor allem daraus, dass die Autorin ihre Quellen über die technischen und ökonomischen Bedingungen des Pipelinebaus sowie die Einwände gegen die Bauvorhaben relativ ungefiltert in die Erzählung übernimmt. Zudem stützt sich ihre Darstellung der Konflikte auf dem internationalen Ölmarkt vor allem auf die ältere und letztlich zeitgenössische Literatur wie zum Beispiel von Paul H. Frankel, John M. Blair oder Anthony Sampson, anstatt diese als Teil der Auseinandersetzungen zu begreifen.
Während der Abfassung einer Doktorarbeit in einem dynamischen Forschungsfeld ist es nicht einfach, parallel entstehende Arbeiten zu ähnlichen Themen im Blick zu behalten. So hat Miriam Bader-Gassner offenbar weder Elisabetta Binis an der NYU entstandene Dissertation zu ENI zur Kenntnis genommen, die inzwischen auf Italienisch und in Teilaspekten auch auf Englisch veröffentlicht ist, noch die Arbeit von Per Högselius zum Gashandel und Pipelinebau zwischen der Sowjetunion und Westeuropa. [1] Gerade der auch durch ältere Sekundärliteratur zu erlangende Blick auf die sogenannte sowjetische Öloffensive zu Beginn der 1960er-Jahre, das Embargo und die anschließenden Gas-Röhrengeschäfte hätte jedoch helfen können, die Spezifik der im Pipelineboom untersuchten Infrastrukturprojekte gerade im Zeichen des Kalten Krieges näher zu bestimmen. [2] Auch eine stärkere Berücksichtigung der internationalen Forschung zu Pipelines und ihren politischen Implikationen hätte der Arbeit, der man ein besseres Lektorat gewünscht hätte, gut getan und helfen können, weiterführende Schlussfolgerungen aus der empirischen Darstellung der verwickelten Baugeschichten abzuleiten, die Bader-Gassner verdienstvoll nachvollzogen hat. [3]
Anmerkungen:
[1] Elisabetta Bini: La potente benzina italiana. Guerra fredda e consumi di massa tra Italia, Stati Uniti e Terzo mondo (1945-1973), Rom 2013; Per Högselius: Red Gas. Russia and the Origins of European Energy Dependence, Basingstoke 2013.
[2] Angela Stent: From Embargo to Ostpolitik. The Political Economy of West German-Soviet Relations, 1955-1980, Cambridge 1983, 100-109; Werner D. Lippert: The Economic Diplomacy of Ostpolitik. Origins of NATO's Energy Dilemma, New York 2011; David S. Painter: Oil, Resources, and the Cold War, 1945-1962, in: The Cambridge History of the Cold War, hgg. v. Melvyn P. Leffler / Odd Arne Westad, Vol. 1, Cambridge / New York 2009, 486-507.
[3] Z.B. Douglas Little: Pipeline Politics. America, TAPLINE, and the Arabs, in: Business History Review 64 (1990), 255-285; Timothy Mitchell: Carbon Democracy. Political Power in the Age of Oil, London / New York 2011.
Rüdiger Graf