Peter Geffcken / Mark Häberlein (Hgg.): Rechnungsfragmente der Augsburger Welser-Gesellschaft (1496-1551). Oberdeutscher Fernhandel am Beginn der neuzeitlichen Weltwirtschaft (= Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit; Bd. XXII), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, CXXXV + 583 S., ISBN 978-3-515-10678-8, EUR 92,00
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Vor ziemlich genau 60 Jahren entdeckte Renate Wenck, die Bibliothekarin an der Kreis- und Studienbibliothek in Dillingen an der Donau, in Bucheinbänden Fragmente von Handelsbüchern des 16. Jahrhunderts, die - wie sich bald herausstellen sollte - dem bedeutenden Handelshaus der Welser zuzuordnen waren. Der Geduld, der Zähigkeit und dem Spürsinn einer Reihe von Historikerinnen und Historikern ist es zu verdanken, dass nach dieser geradezu sensationellen Entdeckung die Suche fortgesetzt und in akribischer jahrzehntelanger Recherche- und Sammeltätigkeit ein Stadium der "Vollständigkeit" und "Reife" erreicht wurde, das in Fachkreisen kaum mehr für möglich gehalten wurde. Insofern ist den verantwortlichen Herausgebern vorliegender Edition, Peter Geffcken und Mark Häberlein, nicht nur zu danken, sondern für die Strukturierung, Systematisierung und vorbildliche Präsentation des recht heterogenen Materials hoher Respekt zu zollen. Dies gilt insbesondere auch für die 135-seitige Einleitung, die zum wertvollsten gehört, was man in jüngerer Zeit zur frühneuzeitlichen Handelsgeschichte auf den Tisch bekommen konnte.
Die Edition genügt höchsten wissenschaftlichen und formalen Anforderungen in einem mehrfachen Sinne. Einerseits erfüllt sie eine Komplementärfunktion, indem sie vielerlei andere Werke in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht ergänzt bzw. vervollständigt. [1] So werden einige bisher nur vermutete Namen identifiziert und nachgewiesen ("de la Cadena" ist "von der Ketten", "Quiseler" ist "Kötzler"). Wohl nicht endgültig geklärt, aber begründet in Frage gestellt wird von den Autoren, ob es einen Heinrich Ehinger in den bisher angenommenen Funktionen überhaupt gab oder ob es sich dabei nicht viel eher um seinen Bruder Ulrich gehandelt hat. Solcherart wird durch die Edition eine neue Richtung aufgezeigt und weitere Forschung eingefordert. Jedenfalls entstand durch die kritische Hinterfragung und gewissenhafte Kompilation ein verfeinertes und erweitertes Gesamtbild der internationalen Handelsbeziehungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es werden eine Vielzahl raum-zeitlicher und finanztechnischer Zusammenhänge der Markt- und Messesysteme (Brabant, Kastilien, Lyon, Wetterau etc.) deutlich bzw. finden Bestätigung. Auch die metrologische Forschung (Maße, Gewichte etc.) erfährt neue Impulse und Konkretisierungen. Man erfährt sehr viel über die Usancen in den Handelszentren, über Governance-Strukturen und Buchhaltungs-Modalitäten. Die Edition gibt wichtige Hinweise auf das Rechnungswesen und den Zahlungsverkehr. Viele Vertrags- und Untervertragsverhältnisse gewinnen bisher nicht bekannte Konturen und der Bereich der Pacht-, Kredit-, Wertpapier- und Darlehensbeziehungen wird transparenter. Interessant erscheint das edierte Quellenmaterial auch insofern, als auf die Formen und Träger der (internationalen) Kooperation und die Wettbewerbsverhältnisse neues oder zusätzliches Licht geworfen wird.
Was den Warenhandel anbelangt, bietet die Quellensammlung ein noch breiteres Spektrum als z.B. die Notariatsakten (siehe Anmerkung), in denen eher die Geschäfte und Transaktionen mit Darlehen, Immobilien, Investitions- und langlebigen Sachgütern (Schiffen etc.) dokumentiert sind. Auch insofern bietet vorliegender Band in einem mehrfachen Sinne eine Bereicherung. Die Palette der gehandelten Güter reicht von Seifen, Zucker, Safran, Datteln, Getreide über Edelsteine, Perlen bis zu Edelmetallen, Quecksilber, Blei und Zinn. Auch das Geschäft mit Pferden und Menschen lassen sich vereinzelt in den edierten Quellen entdecken. So findet man Details zur Sklavenhandelslizenz der Welser und in seltenen Fällen Angaben zu Namen, Alter, Ein- und Verkaufspreisen gehandelter Sklaven. Ferner lassen sich anhand der Edition die räumlichen Verlagerungen der Märkte und des Handels im frühneuzeitlichen Europa nachzeichnen, wobei Augsburg/Nürnberg, Memmingen, Venedig, Antwerpen, Spanischer Hof (Valladolid, Madrid, Saragossa etc.) und Sevilla innerhalb der aufgefundenen Rechnungsfragmente besonders im Fokus stehen.
Zu allen erwähnten Aspekten haben die Autoren in ihrer profunden Einleitung sehr sachkundige Zusammenfassungen und Inhaltsanalysen des kompilierten "fragmentarischen" Archivmaterials verfasst, ja es partiell "entfragmentiert". Das Buch ist für den Nutzer sehr kompetent aufbereitet, gut aufgeschlüsselt und mit drei Registern versehen. Sowohl die Editionsrichtlinien als auch das Glossar, eine Rubrik zur Metrologie sowie eine kleine Handelszeichenkunde erleichtern den Zugriff und das Verständnis. Der Band ist mit großer Akribie und mit der Sorgfalt, der Genauigkeit und der Umsicht der erfahrenen Historiker zuverlässig gearbeitet. Dadurch sind die Befunde "belastbar" und eine erstklassige Ausgangsbasis für die weitere Forschung ist gegeben.
Anmerkung:
[1] Z.B. Hermann Kellenbenz / Rolf Walter (Hgg.): Oberdeutsche Kaufleute in Sevilla und Cádiz (1525-1560). Eine Edition von Notariatsakten aus den dortigen Archiven. (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit; Bd. XXI), Stuttgart 2001.
Rolf Walter