Ronald Grigor Suny: "They Can Live in the Desert but Nowhere Else". A History of the Armenian Genocide, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2015, XXIV + 490 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-0-691-14730-7, USD 35,00
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Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München: C.H.Beck 2015, 288 S., 18 Abb., 1 Karte, ISBN 978-3-406-67451-8, EUR 22,95
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Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Berlin: Ch. Links Verlag 2015, 343 S., 4 Kt., 77 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-817-2, EUR 19,90
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Armin T. Wegner: Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste. Ein Lichtbildvortrag. Herausgegeben von Andreas Meyer. Mit einem Essay von Wolfgang Gust, Göttingen: Wallstein 2011
Raymond Kévorkian: Le Génocide des Arméniens, Paris: Éditions Odile Jacob 2006
Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005
Das einhundertjährige Gedenken an den Völkermord an den Armeniern von 1915/1916 hat die politisch interessierten Öffentlichkeiten in diesem Jahr beschäftigt: vom Papst, der das Thema in einem Gedenkgottesdienst ansprach, über das Europäische Parlament bis hin zum Deutschen Bundestag. Die internationale geschichtswissenschaftliche Forschung kann schon auf mindestens zwei Jahrzehnte intensiver und archivgestützter Arbeit zurückblicken. Es wäre mithin Zeit, diesen interessierten Öffentlichkeiten wissenschaftlich fundierte Überblicke vorzulegen. Eben diesen Anspruch haben die drei hier zu besprechenden Bücher - mit unterschiedlichem Fokus: Während sich Jürgen Gottschlich an der Frage der deutsch-osmanischen Verflechtungen und damit vor allem an der Rolle des Deutschen Reiches im Völkermord abarbeitet, legen Ronald Grigor Suny und Rolf Hosfeld eine Art Gesamtdarstellung des Völkermordes vor - mit unterschiedlichen Zugangsweisen.
In Deutschland hat wohl das Werk von Jürgen Gottschlich am ehesten den Weg in die öffentlichen Diskussionen gefunden. Sein Buch lag unter anderem vielen Berichten in deutschen Tages- und Wochenzeitungen und der Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zugrunde. Angesichts der großen Nachfrage nach den deutschen Bezügen dieses Themas in den Debatten hierzulande ist das auch verständlich. Leider schießt Gottschlich aber weit über das Ziel hinaus. Schon der Titel "Beihilfe zum Völkermord" ist ein Ärgernis. Der strafrechtliche Beihilfe-Begriff setzt einen doppelten Teilnehmervorsatz voraus: Der "Gehilfe" muss wollen, dass der Täter die Tat begeht, und er muss seine eigene Beihilfe wollen. Beides kann Gottschlich für "Deutschland" nicht nachweisen. Es gelingt ihm lediglich, für einzelne und in der Forschung schon intensiv diskutierte deutsche Akteure eine große Nähe zu den Entscheidungen des jungtürkischen Komitees durch Indizien nahezulegen. Beweisen kann er es nicht. (Man kann nur vermuten, dass sich solche Beweise u.a. im Osmanischen Militärarchiv finden ließen, vorausgesetzt, man könnte dort nach internationalen Standards frei arbeiten.) An vielen Stellen stützt er sich dabei auf spätere Aussagen deutscher Akteure, die bereits der Rechtfertigung gegenüber internationalen Vorwürfen in laufenden Nachkriegsverhandlungen dienen - diesen Kontext blendet Gottschlich in der Regel aus. Zudem folgt er an vielen Punkten den Erinnerungen des amerikanischen Botschafters Henry Morgenthau Senior, der die deutsche Rolle im Rückblick sehr negativ einschätzt (hieran hat sich die Forschung, u.a. Margaret Lavinia Anderson, kritisch abgearbeitet), und den Historikern Vahakn Dadrian und Christoph Dinkel, deren Thesen zur deutschen Verstrickung in der Forschung ebenfalls sehr deutlich kritisiert worden sind. Am stärksten sind da vielleicht die Ausführungen zum Nachkriegsdeutschland, also zum Prozess gegen den Mörder von Talaat Pascha und das innenpolitische Klima, in dem dieses Ereignis heftig diskutiert wird.
Ärgerlich sind auch die Kapitel-Überschriften. Ein Kapitel etwa heißt: "'Hart, aber nützlich'. Die Deutschen akzeptieren, dass aus den Deportationen ein Völkermord wird". Das Zitat zu Beginn stammt jedoch nicht von "den Deutschen", sondern von Hans Humann, einem Bewunderer Enver Paschas, der die Massaker tatsächlich rechtfertigte - der aber in seiner Bedeutung wohl eher überschätzt wird und sicher nicht repräsentativ ist. Manches ist wohl der Sensation geschuldet: Dass Oberstleutnant Böttrich als Chef der türkischen Feldeisenbahn "so etwas wie ein Adolf Eichmann kleineren Kalibers war", sagt weder etwas über Böttrich noch über Eichmann aus. Aus geschichtsdidaktischer Perspektive könnte man es zumindest als Gewinn lesen, dass Gottschlich seine Recherchereisen in die Region mit geschichtskulturellen Ausblicken in die Erzählung einbindet. Hier handelt es sich aber eher um Impressionen, die der Erzählung eigentlich nichts hinzufügen. Christopher de Bellaigues "Rebellenland" etwa weiß hier viel mehr zu erzählen. Insgesamt ist es Gottschlich nicht gelungen, dem differenzierten Forschungsstand gerecht zu werden; sein Buch liest sich eher als eine Anklage Deutschlands und weniger als eine differenzierte Analyse komplexer deutscher Verflechtungen in den Völkermord. (Zu ergänzen bleibt noch, dass die Seitenzählung im Rezensionsexemplar auf den Seiten 181-186 merkwürdig springt. Das ist dem Verlag anzulasten, nicht dem Autor.)
Deutlich gelungener ist Rolf Hosfelds "Tod in der Wüste", das man getrost jedem politisch und historisch Interessierten empfehlen kann, der sich über die Ereignisgeschichte des Völkermordes informieren möchte. Dieses Buch ist sprachlich sehr ansprechend, differenziert und präzise geschrieben, es lädt zum Lesen ein, und es gelingt Hosfeld, die Erträge internationaler Forschung auf nur 240 Seiten sehr dicht zusammenzufassen, ohne dabei Wesentliches zu unterschlagen (dass er, wie in einigen Rezensionen angemerkt wurde, wenig über die deutsche Rolle erzählt, hängt wohl auch damit zusammen, dass diese aus einem deutschen Interesse am Thema heraus systematisch überschätzt wird; es handelt sich um einen jungtürkischen Völkermord, und ebendiesen erzählt Hosfeld). Ohne Weiteres lässt sich sagen: Hosfeld bietet eine monographische Überblicksdarstellung über den Völkermord an den Armeniern für die eingangs angesprochenen historisch und politisch interessierten Öffentlichkeiten, und das sehr lesbar und inhaltlich sehr zuverlässig.
Das, was Hosfeld etwa aus der Perspektive des Einsatzes im geschichtswissenschaftlichen Seminar fehlt, ist die Einordnung in größere Forschungszusammenhänge. Eben dies leistet das letzte zu besprechende Buch des US-amerikanischen Historikers Ronald Grigor Suny, der selbst armenische Wurzeln hat. Das Buch beginnt mit einer selbstbewussten Ansage: "This is the story of why, when, and how the Genocide of the Armenians of the Ottoman Empire happened." (xi) Nicht weniger leistet dieses Buch in der Tat. Suny erzählt den Völkermord chronologisch vom armenischen Leben im Osmanischen Reich bis zum Nachleben der "verwaisten" Nation nach dem Ersten Weltkrieg. Dabei bündelt er seine Erzählung aber in systematische Einheiten, in denen er jeweils größere Forschungszusammenhänge anspricht. In "Empire" bietet er nicht nur einen Einblick in die Imperialität des Osmanischen Reiches, sondern auch in theoretische und methodische Perspektiven der jüngeren Imperialgeschichte (u.a. auf das Osmanische Reich); in "Armenians" und "Nation" erzählt er die Vorgeschichte der Armenier vor 1915 im konzeptuellen Rahmen der modernen Nationalismusgeschichte.
Auf der analytischen Ebene arbeitet Suny überzeugend nicht-essentialistisch. Er löst sich auch sehr klar aus den lange dominierenden türkischen und armenischen nationalhistoriographischen Paradigmen. Stattdessen arbeitet er sehr bewusst akteursorientiert: "This book investigates those moments of choice when political actors might have acted differently but decided instead to embark on a course that led to devastation and destruction". (xi) Dabei nimmt er nicht nur die Täter in den Blick, sondern auch Armenier, und wird damit einer Forderung gerecht, die in der Forschung zuletzt häufiger formuliert wurde: auch eine armenische agency zurückzugewinnen, die in der Täter-Opfer-Dichotomie sonst verlorenzugehen droht. Das ist durchaus heikel, weil es der offiziell türkischen Lesart ("Armenier waren auch Täter", "es gab armenische Gewalt gegen Muslime", "Armenier kollaborierten mit Russland", "Armenier bereiteten anti-osmanische Aufstände vor" usw.) nahekommen könnte. Suny gelingt es jedoch, Armenier als Handelnde vorzustellen, ohne in die Provokationsthese zu verfallen.
Mit diesem Ansatz arbeitet er sich Schritt für Schritt durch die Geschichte des Völkermordes: von den ersten Einmischungen der Großmächte in die armenische Frage im 19. Jahrhundert über die jungtürkische Revolution und die Gegenrevolution bis zum Kriegseintritt des Osmanischen Reiches, den ersten Deportationen und dem Völkermord selbst. Dabei widmet er (und das erweist sich als sehr produktiv) der Vorgeschichte des Völkermordes vor 1915 mehr Raum als dem Völkermord selbst. Obwohl schon diese Kapitel immer auch Analyse und Kontextualisierung einschließen, beendet Suny seine Darstellung mit einem eigenen Kapitel über das wissenschaftliche Nachdenken über den Völkermord. Er argumentiert, dass der Völkermord nicht lange vorher geplant, nicht religiös motiviert und nicht Ausdruck älterer ethnischer Spannungen war, sondern als pathologische Reaktion auf die Wahrnehmung einer existentiellen Bedrohung des Reiches in der spezifischen Situation des Ersten Weltkrieges gesehen werden sollte.
Im direkten Vergleich der drei Bücher erscheint Gottschlichs Buch als wissenschaftlich am wenigsten befriedigend. Wer sich über den Verlauf des Völkermordes informieren möchte, ist mit Rolf Hosfeld gut beraten. Wer schließlich tiefer in die wissenschaftlichen Diskussionszusammenhänge einsteigen möchte, sollte zu Ronald Grigor Suny greifen.
Andreas Frings