Rezension über:

Jennifer Powell McNutt: Calvin Meets Voltaire. The Clergy of Geneva in the Age of Enlightenment, 1685-1798, Aldershot: Ashgate 2013, XV + 358 S., ISBN 978-1-4094-2441-3, GBP 70,00
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Rezension von:
André Holenstein
Historisches Institut, Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
André Holenstein: Rezension von: Jennifer Powell McNutt: Calvin Meets Voltaire. The Clergy of Geneva in the Age of Enlightenment, 1685-1798, Aldershot: Ashgate 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/09/25787.html


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Jennifer Powell McNutt: Calvin Meets Voltaire

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Der Haupttitel dieser an der Universität St. Andrews unter der Leitung von Bruce Gordon und Guy Rowlands verfassten Dissertation hebt einen inhaltlichen Aspekt dieser Studie vielleicht etwas über Gebühr hervor. Der Genfer Reformator Calvin und der seit 1754 in Genf - ab 1758 im benachbarten französischen Pays de Gex - ansässige Philosoph Voltaire stehen hier stellvertretend für die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Genfer Kirche des späten Ancien régimes als Erbin von Calvins Reformation des 16. Jahrhunderts auf der einen und der Aufklärung französischer Prägung auf der anderen Seite. Stärker noch als Voltaire selber war es allerdings Jean d'Alembert, der mit seinem für die Encyclopédie verfassten Artikel über Genf 1757 die Genfer Kirche und Gesellschaft mit aufklärerischer Kritik konfrontierte. Er überrumpelte sie mit der Aussage, verschiedene Genfer Pastoren seien vollkommene Sozinianer geworden, und er verstörte sie nicht weniger mit der für Calvinisten moralisch heiklen Forderung, Genf müsse ein Theater einrichten.

Die Untersuchung dieser bekannten dogmen- und kulturgeschichtlichen Kontroverse bildet nur einen Aspekt in dieser viel weiter ausholenden Studie, die sich allgemeiner zum Ziel gesetzt hat, ein Gruppenporträt der Genfer Geistlichkeit im Jahrhundert vor der Revolution zu zeichnen. Im Zentrum steht die "Compagnie des Pasteurs", die seit den Zeiten Calvins als Korporation der Genfer Pfarrer und Professoren an der Akademie eine zentrale Rolle im kirchlichen, kulturellen und politischen Leben Genfs spielte. Die Protokolle der Zusammenkünfte der "Compagnie" bilden zusammen mit Predigtsammlungen sowie privater und offizieller Korrespondenz wichtiger Mitglieder der "Compagnie" die empirische Grundlage für eine Untersuchung, die im Wesentlichen mit der Widerrufung des Edikts von Nantes 1685 und der Ankunft zahlreicher hugenottischer Refugianten in Genf einsetzt und im Jahr der Annexion Genfs durch die französische Republik 1798 endet. Mit dem Ende der staatlichen Unabhängigkeit musste Genf erstmals wieder seit der Reformation katholische Gottesdienste in der Stadt und im Umland zulassen.

110 Geistliche, die in diesem Zeitraum in der Stadt Genf als Pfarrer und/oder Professoren an der Akademie wirkten, sind die zentralen Akteure des Buches. Ihre Lebensdaten, familiäre Herkunft, Ausbildung und berufliche Laufbahn sind in einem gesonderten prosopographischen Anhang (291-328) dokumentiert. Die Studie betrachtet die Aufgaben und den Status dieses Kollektivs aus verschiedenen, bisweilen auch überraschend originellen Gesichtswinkeln. So schildert sie nicht nur die vielfältigen pastoralen und kulturellen Aufgaben der Genfer Pfarrer, deren Selbstverständnis als Angehörige der calvinistischen Mutterkirche und als Vertreter des reformierten Vorpostens im frankophonen Raum nach der Widerrufung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. geschärft wurde. Ein eigenes Kapitel ist auch der kleinen Gruppe von 19 Geistlichen gewidmet, die aus diversen Gründen von ihrem Amt resignierten oder zu dessen Aufgabe gezwungen wurden.

Um dem Einfluss aufklärerischer Ideen auf die Genfer Geistlichkeit auf die Spur zu kommen und festzustellen, wie stark die Genfer Kirche auch im 18. Jahrhundert Calvins Erbe verhaftet blieb bzw. wie stark in Genf Säkularisierungstendenzen fassbar waren, hat die Verfasserin drei Tätigkeitsbereiche der Genfer Geistlichen genauer betrachtet. Sie hat die theologischen und publizistischen Strategien untersucht, mit der die "Compagnie" den dogmatisch problematischen Vorwurf d'Alemberts eines unter ihren Angehörigen verbreiteten Sozinianismus zurückwies. Sodann hat sie in einer aufwändigen Lektüre nach Spuren spezifisch aufklärerischer Kernbegriffe und Ideen in Predigten gesucht und dabei insbesondere die Erörterung des Verhältnisses von Offenbarung und Vernunft betrachtet. Für Genf, das im 18. Jahrhundert von mehreren Wellen städtischer Protest- und Oppositionsbewegungen erfasst wurde, besonders aufschlussreich ist schliesslich die Untersuchung der Rolle, die die lokale Geistlichkeit in den Konfrontationen zwischen dem regierenden Patriziat und den aufbegehrenden einfachen Bürgern und den Hintersassen (Natifs) gespielt hat. Bemerkenswert erscheint hier etwa der Befund, dass keine dieser Bewegungen den Status der Geistlichkeit grundsätzlich in Frage gestellt hat, obwohl sie trotz ihrer ausgleichenden Irenik grundsätzlich bis ins späte 18. Jahrhundert den politischen und gesellschaftlichen Status quo verteidigte.

Der insgesamt sehr lesenswerten Studie, die für eine vermittelnde Sicht auf das Verhältnis zwischen Aufklärung und Religion im 18. Jahrhundert plädiert und die geistige und kulturelle Adaptionsfähigkeit der Genfer Geistlichen im Sinne eines "reasonable Calvinism" unterstreicht, könnte man in konzeptioneller Hinsicht zwei Punkte kritisch vorhalten: Sie bleibt streckenweise in einem traditionellen, geistesgeschichtlichen Verständnis von Aufklärung gefangen, ohne sich für die naturgeschichtlichen Forschungen der Genfer Pastoren und für deren Mitgliedschaft in gelehrten Sozietäten und Wissenschaftsakademien zu interessieren, obwohl etwa mit Etienne Jallabert (1658-1723) und dessen Sohn Jean (1712-1768) prominente Naturforscher Mitglieder der "Compagnie" waren. Sodann fällt dem Schweizer Rezensenten auf, dass die Studie den Einfluss Frankreichs - und zwar sowohl in geistiger, kultureller und politischer Hinsicht - auf die Genfer Angelegenheiten sehr hoch veranschlagt, darob aber die Tatsache zu sehr aus den Augen verliert, dass die Republik Genf engste Beziehungen zum Corpus Helveticum und insbesondere zur Republik Bern unterhielt und dem Einfluss Frankreichs gerade im 18. Jahrhundert dadurch auch Grenzen gesetzt waren.

André Holenstein