André Heinzer: Pfründen, Herrschaft, Gottesdienst. Lebenswelten der Mönche und Weltgeistlichen am Kloster und Kollegiatsstift St. Leodegar in Luzern zwischen 1291 und 1550 (= Luzerner Historische Studien; Bd. 45), Basel: Schwabe 2014, 400 S., 21 Farb-, 6 s/w-Abb., 2 Tabellen, 7 Grafiken, ISBN 978-3-7965-3263-4, EUR 48,50
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Der Verfasser dieser Berner Dissertation kommt gleich im ersten Satz zur Sache: "Das Gotteshaus St. Leodegar hatte seit 1456 eine kollegiatstiftische, vorher eine monastische Verfassung" (11). Keine heitere Anekdote, kein hintersinnig mehrdeutiges Quellenzitat, keine putzige Gelehrtenstimme aus älteren Zeiten führt den Leser auf das Thema dieser Monografie, das "Gotteshaus" (29) St. Leodegar in Luzern, hin. Er sieht sich vielmehr hinterrücks in einen Strudel der Quellenkenntnis und geradezu detailversessenen Gelehrsamkeit geworfen, dem er am Ende des Buches leicht blümerant doch beträchtlich belehrt wieder entsteigt.
Die letzten Jahrzehnte können auf eine zunehmend unübersichtliche Menge von Stiftsgeschichten zurückblicken, welche in wohlbekannter und gern belächelter Art und Weise die Geschichte einzelner geistlicher Institutionen im Mittelalter aufarbeiten und sich dabei vor allem auf die interne stiftische Organisation sowie die prosopografische Untersuchung der in den Quellen feststellbaren Kapitelsinsassen spezialisieren. Auch die mittelalterlichen "Wege zur Pfründe" dürfen mittlerweile als gut untersucht gelten, wobei anzumerken ist, dass aufgrund der fast zu guten, für einen EDV-basierten Zugriff allerdings geradezu prädestinierten vatikanischen Überlieferung vor allem die päpstliche Provisionen für niedere Benefizien ins Blickfeld der Forschung gerückt sind. Die anderen Kollaturformen des Mittelalters gerieten daneben oftmals ins Abseits.
André Heinzer will hier einen anderen Weg beschreiten, indem er das Gotteshaus St. Leodegar mit seinen Insassen in seinen verschiedenen lebensweltlichen Bezügen vorstellt. Neben der für die personellen Netzwerke unverzichtbaren Prosopografie, welche ihren Niederschlag nicht zuletzt in einer Personalliste gefunden hat (331-374), widmet der Verfasser sich auch verfassungs-, wirtschafts- und - angesichts des Berner Hintergrunds der Dissertation naheliegend - bildungsgeschichtlichen Fragestellungen. Für diese Interessen erweist sich St. Leodegar in Luzern aus mehreren Gründen als prädestiniert: Erstens ist das Stift mit seinen Insassen in der städtischen und urkundlichen Schriftlichkeit des Spätmittelalters sehr gut dokumentiert, zweitens ermöglicht der Verfassungswechsel des Klosters zum weltlichen Kollegiatstift im Jahr 1456 den Blick auf die Rechts- und Lebenswirklichkeiten klerikalen Lebens im Mittelalter und drittens hat es sich dem päpstlichen Zugriff auf die Pfründen weitestgehend entzogen, was die anderen Kollaturformen ins Zentrum der Untersuchung rückt.
Heinzer beginnt sein Werk mit einer recht knappen, doch konzisen Einleitung (11-32), der man im "Forschungsstand" (19-24) allerdings eine bessere Verortung des Werkes in der internationalen Forschungslandschaft gewünscht hätte. Der erste inhaltliche Abschnitt widmet sich "Pfründen, Pfründer[n], Pfründengemeinschaft" (33-135) und geht dem verfassungsrechtlich interessanten Übergang von der Konvents- zur Chorherrenpfründe ebenso nach wie den verschiedenen Wegen des Pfründenerwerbs zwischen ordentlicher Kollatur, päpstlicher Provision und ius primarium precum. Hinsichtlich der Pfründenbewirtschaftung durch die Stiftsinsassen ist besonders die detailreiche Darstellung von Pfründentausch, Pfründeneignung, Pfründenkumulation und Pfründenkarrieren interessant. Weiteres Augenmerk findet die Herkunft der Pfründner, welche sich im Spätmittelalter von einem vor allem elsässischen Schwerpunkt mehr und mehr in den luzernischen Raum verlegte. Hinsichtlich der sozialen Stellung lässt sich die zunehmende Durchdringung des Stifts mit bürgerlichen luzernischen Geschlechtern beobachten. Die Überlegungen zur Gemeinschaft der Pfründner gefallen durch die Berücksichtigung des fast unüberbrückbaren Hiatus zwischen sich zunehmend ausprägenden Partikularinteressen und der satzungsmäßigen kollektiven Identität der Gotteshausgemeinschaft. Die vor allem auf Urkunden und städtischen Akten basierende Quellensituation ist für kulturgeschichtliche Fragestellungen sicherlich nur wenig geeignet, doch kann Heinzer durch die Darstellung der offenbar zahlreichen innerstiftischen Querelen dem Idealbild einer einigen und friedlichen klerikalen Gemeinschaft das Realbild einer durchaus heterogenen und bisweilen streitlustigen geistlichen Zufallsgesellschaft entgegenstellen.
Der zweite inhaltliche Abschnitt ist "Tätigkeiten und Wirkungsfelder[n] in der 'Gotteshauslebenswelt'" (135-203) gewidmet und befasst sich vor allem mit den "'inneren' Aktivitäten der Klosterherren" (sic! 135), die im Kirchendienst mit Gottesdienst und Seelsorge, aber auch in der administrativen und rechtlichen Erfassung und Durchdringung der stiftischen Grundherrschaft bestanden.
Der dritte Abschnitt ist mit dem "Außenleben" (205-322) auf die Beziehungen des Gotteshauses St. Leodegar mit den verschiedenen weltlichen Mächten der Umgebung sowie auf die individuellen Aktivitäten der einzelnen Stiftsinsassen gerichtet. Ein sehr knappes Kapitel streift die Beziehungen zwischen dem Kloster St. Leodegar und dem elsässischen Kloster Murbach, dem es bis zum Kauf der grund- und lehnsherrlichen Rechte des Abtes von Murbach durch Habsburg-Österreich im Jahr 1291 unterstanden hatte. Ebenfalls knapp behandelt Heinzer das Verhältnis des Gotteshauses zu Österreich, um sich dann ausführlicher den Beziehungen von St. Leodegar zur Stadt Luzern zu widmen, welche seit 1415 im Zuge ihrer herrschaftlichen Expansion diese Rechte innehatte. Hier gelingen Heinzer viele interessante Einzelbeobachtungen zum spätmittelalterlichen Territorialisierungsprozess in Luzern, denen man freilich eine stärkere Verknüpfung mit bereits bestehenden Forschungen gewünscht hätte. Der zweite Teil dieses Abschnitts geht den außerstiftischen Aktivitäten der Stiftsinsassen nach und untersucht zunächst die Interaktion mit anderen Gotteshäusern, um dann den familiären Netzwerken, den administrativen und diplomatischen Tätigkeiten, dem Universitätsbesuch und den Kontakten der Kanoniker zu humanistischen und reformatorischen Kreisen nachzugehen. Während die lebensweltliche Wirksamkeit universitärer Netzwerke von Heinzer durchaus kritisch gesehen wird, gelingen ihm einige Beobachtungen zur Verortung und zum Wirken einiger Stiftsinsassen in den neuen intellektuellen und religiösen Bewegungen des Spätmittelalters.
Die sich anschließenden Schlussbetrachtungen sind einmal mehr knapp, führen aber die zentralen Ergebnisse der Studie zusammen. Das Werk wird durch ein Register erschlossen, das in dankenswerter Weise auch eine sachliche Erschließung der Monografie leistet.
Die Arbeit ist erfreulich sorgfältig gearbeitet und bemüht sich durch zahlreiche Abbildungen um eine auch tatsächlich anschauliche Darstellung. Leider gestaltet sich die Lektüre durch die sehr detailverliebte Darstellung etwa einzelner Pfründenkarrieren und die sperrige sprachliche Darstellungsweise bisweilen ausgesprochen mühsam. Hin und wieder hätte man dem Autor mehr Mut zur Synthese gewünscht, wie man andererseits eine bessere Anbindung an aktuelle Forschungsschwerpunkte wie etwa die spätmittelalterliche Territorialisierung vermisst. Nichtsdestoweniger ist es Heinzer gelungen, das Gotteshaus St. Leodegar in seinen rechtlichen und lebensweltlichen Bezügen umfassend darzustellen, sodass sein Werk mit seiner Überschreitung der oft geübten Prosopografie eine willkommene Bereicherung der modernen Forschungen zur spätmittelalterlichen Stiftsgeschichte darstellt.
Kerstin Hitzbleck