Petra Terhoeven: Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen, München: Oldenbourg 2014, 712 S., 1 Farb-, 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-71866-9, EUR 59,95
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Die Geschichte des linken Terrorismus in der Bundesrepublik ist mittlerweile ein vielfach beackertes Feld. Die weißen Flecken, die es auf der Landkarte der Geschehnisse immer noch gibt, dürften ohne neue Quellen allerdings kaum zu füllen sein. Petra Terhoeven ist es nun gelungen, eine frische und ertragreiche Perspektive auf die allzu bekannten Ereignisse zu öffnen. Dies tut sie, indem sie den deutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre als europäisches Phänomen untersucht und insbesondere seine Verbindungen mit der italienischen Linken und dem bewaffneten Kampf in Italien darstellt. Dabei folgt sie weniger der blutigen Spur der Anschläge, sondern nimmt das Selbstverständnis des Terrorismus als "Propaganda der Tat" ernst und rekonstruiert die Kommunikationsnetzwerke, über welche die inhaftierten Täter der Roten Armee Fraktion (RAF) mit Hilfe ihrer Rechtsanwälte einen transnationalen Propagandakrieg zur Diskreditierung der Bundesrepublik führten. Tatsächlich gewinnt der deutsche Linksterrorismus durch diese Betrachtungsweise stark an historischer Bedeutung. Jenseits der bundesrepublikanischen Binnenperspektive erwiesen sich die RAF und die Bewegung 2. Juni als durchaus wirksame Instrumente, um die zweite deutsche Demokratie als faschistoiden Polizeistaat erscheinen zu lassen.
Die Geschichte, die Petra Terhoeven erzählt, entfaltet sich häufig als Beziehungsgeschichte zwischen deutschen und italienischen Linken. Im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld des Übergangs zum bewaffneten Kampf waren es insbesondere Rudi Dutschke und Giangiacomo Feltrinelli, die sich in einem parallellaufenden Radikalisierungsprozess gegenseitig befeuerten und sehr ähnliche theoretische Grundlagen für eine europäische Stadtguerilla formulierten. Während Dutschkes Radikalisierungsweg durch das auf ihn verübte Attentat jäh endete, ging der reiche Verleger Feltrinelli mit der Formierung der Gruppi d'Azione Partigiana tatsächlich zum bewaffneten Kampf über, dem er schließlich selbst zum Opfer fallen sollte. Durch sein auch in die Bundesrepublik hineinwirkendes Verlagsimperium war Feltrinelli in beiden Ländern ein wichtiger Motor der Radikalisierung.
Einerseits stark inspiriert durch den Partisanenkampf der italienischen Resistenza im Zweiten Weltkrieg, war Feltrinelli andererseits in hohem Maße mit den Emanzipationsbewegungen in der Dritten Welt verbunden. Die Gewalt, die der Freund Fidel Castros nach Italien trug, war in Feltrinellis Augen Bestandteil jenes globalen revolutionären Umwälzungsprozesses, der sich im Algerienkrieg, in Vietnam und den lateinamerikanischen Guerillakriegen manifestierte. Gerade anhand von Feltrinellis Biographie wird deutlich, wie sich die Gewaltbilder aus Vergangenheit und Gegenwart zu einem unheilvollen Gesamtpanorama verdichteten, das im Zusammenspiel mit Bildern romantischen Rebellentums einen unwiderstehlichen Sog in Richtung auf den bewaffneten Kampf entfalten konnte. Hinzu kam die globale Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges als ein Element, das scheinbar alles mit allem verband. Für die Zeitgenossen stand Lenins Frage "Wer - wen?" als Drohung oder Verheißung sehr wohl im Raum, woran sich utopische ebenso wie apokalyptische Phantasien anknüpfen ließen.
Ulrike Meinhof, die zum deutschen Netzwerk Feltrinellis zählte, vertrat in ihrer Schrift "Das Konzept Stadtguerilla" ein weitgehend gleichartiges Weltbild, das sie unter Bezugnahme auf eine Schrift der italienischen Gruppe "il manifesto" entwickelte. Während Meinhof die Aussichten für eine revolutionäre Entwicklung in Italien relativ optimistisch beurteilte, sah sie die Aufgabe der RAF in der Bundesrepublik vor allem darin, in der globalen Klassenauseinandersetzung zur Zersplitterung der Kräfte des amerikanischen Imperialismus beizutragen.
Indem Terhoeven den gewalttätigen italienischen Linksradikalismus der 1970er Jahre in seinen organisatorischen und personellen Verästelungen breit darstellt, gelingt es ihr, nicht nur die zahlreichen Verbindungen in die Bundesrepublik, sondern auch den quantitativen und qualitativen Unterschied zwischen der Gewalt in Italien und der Bundesrepublik herauszuarbeiten. Während italienische Gruppen wie Lotta Continua und die Roten Brigaden mit ihren Aktionen sehr viel tiefer in die Gesellschaft hineinwirken und mit missliebigen Journalisten oder lokalen Funktionären der Christdemokratischen Partei sehr viel breitere Opfergruppen ins Visier nehmen konnten, entfaltete die RAF ihre stärkste Wirkung ironischerweise erst dadurch, dass die Kader der ersten Generation nach ihrer Verhaftung den Kampf aus dem Gefängnis heraus mit einer Strategie der Selbstviktimisierung fortsetzten. Mit den bis zum Tode von Holger Meins vorangetriebenen Hungerstreiks schuf die RAF-Führung um Andreas Baader und Gudrun Ensslin medial leicht vermittelbare Ikonen einer vorgeblichen "Vernichtungshaft", die an die Schreckensbilder aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern anknüpfen sollten. In Italien, aber auch in Frankreich wurden solche Motive nicht nur von der radikalen Linken aufgenommen, sondern auch in der linksliberalen Presse relativ breit rezipiert, da sie mit den Erfahrungen aus der deutschen Besatzungszeit in Verbindung gebracht werden konnten.
Völlig zu Recht widmet Terhoeven daher dem von der RAF aus den Stammheimer Gefängniszellen heraus geführten Propagandakrieg breiten Raum. Im Zentrum ihrer Untersuchung stehen die Anwälte, von denen zahlreiche aus einer völlig distanzlosen Gesinnungsgenossenschaft heraus zu Mittätern wurden. Dies trifft besonders auf Klaus Croissant zu, der sich als Propaganda-Impresario der RAF von den Häftlingen mit zum Teil wüsten Kassibern lenken ließ. Durch diese Perspektive wird nochmals die hohe Binnenaggressivität innerhalb der RAF deutlich, die schließlich zu dem auch wieder propagandistisch ausgeschlachteten Selbstmord von Ulrike Meinhof führen sollte. Anhand von Dokumenten aus dem Auswärtigen Amt kann Terhoeven zeigen, dass die Strategie der Selbstviktimisierung zunehmend zu einem außenpolitischen Problem für die Bundesrepublik wurde. Gleichzeitig befeuerte diese Strategie Radikalisierungsprozesse besonders in Italien, wo das Leid der RAF-Häftlinge zum Anlass für gewalttätige Ausschreitungen auch gegen deutsche Touristen genommen wurde. Insbesondere die Erfolge der Bundesrepublik beim Kampf gegen den Terrorismus aktualisierten das Feindbild eines militaristischen und faschistischen Deutschlands, das mit dem Hinweis auf die sogenannten "Lederköpfe" der GSG-9 auf fast schon comichaft-groteske Weise beschworen wurde.
Terhoeven hat ein sehr lesenswertes und gut lesbares Buch geschrieben, das durch seine breite Darstellung des italienischen Linksradikalismus auch für dieses Themenfeld einen wichtigen Beitrag leistet und die vielfältigen Verstrickungen von italienischen Intellektuellen wie Antonio Negri oder Dario Fo nachzeichnet. Gleichzeitig liefert sie, ohne allerdings danach überhaupt gefragt zu haben, eine wichtige Antwort auf die Frage, warum die Staatssicherheit der DDR, die nach Erich Mielkes Verständnis ja nur eine Kampfabteilung des KGB war, der RAF trotz des damit einhergehenden entspannungspolitischen Risikos so große Unterstützung zuteilwerden ließ. Was die Einschätzung der Lage in Italien betraf, stand die KPdSU den Roten Brigaden ohnehin näher als der immer stärker zur Sozialdemokratisierung neigenden Kommunistischen Partei Italiens. [1]
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu Michael Ploetz: Mit RAF, Roten Brigaden und Action Directe: Terrorismus und Rechtsextremismus in der Strategie von SED und KPdSU, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 22/2007, 117-144.
Michael Ploetz