Jens Rüffer: Werkprozess - Wahrnehmung - Interpretation. Studien zur mittelalterlichen Gestaltungspraxis und zur Methodik ihrer Erschließung am Beispiel baugebundener Skulptur, Berlin: Lukas Verlag 2014, 625 S., 59 s/w-Abb., ISBN 978-3-86732-175-4, EUR 40,00
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Man hätte bei einem Buch dieses Titels wohl kaum erwartet, dass zu den wenigen ausführlicher behandelten Objekten Dieter Roths "Gartenskulptur" gehört: jenes gigantische, seit 1968 ständig erweiterte und inzwischen eine ganze Museumshalle füllende Konstrukt aus verschiedensten Objekten, aus Elektrogeräten, Topfpflanzen, Hasenställen. Jens Rüffer schickt den Leser auf eine Zeitreise in die ferne Zukunft und malt aus, was die Archäologen dereinst denken mögen, wenn sie bei ihren Grabungen im alten Berlin im Bereich des ehemaligen Hamburger Bahnhofs auf dieses rätselhafte Objekt stoßen sollten, wie hilflos sie ihm gegenüberstünden, wenn sie, außer dem Hinweisschild mit dem wenig hilfreichen Werktitel, keinerlei Informationen über die Bedeutung der "Gartenskulptur" als Kunstwerk hätten, wenn zudem das Wissen über die künstlerische Praxis unserer Zeit verloren sein sollte. "Ohne hermeneutische Brücke", so folgert der Autor, "kein zeitgenössisches Verständnis" (48).
Eine solche Brücke möchte Jens Rüffer in eine uns weit entrückte Epoche schlagen: ins Mittelalter. Die aus seiner Berner Habilitationsschrift hervorgegangene Studie eröffnet neue Zugänge zu den gestalterischen Praktiken im Mittelalter, genauer: zu jenen gemeinhin als künstlerische bezeichneten Praktiken, derer sich das Fach Kunstgeschichte angenommen hat. Dabei konzentriert sich der Autor zwar primär auf die klassischen, in den kunsthistorischen Gattungskanon aufgenommenen Formen gestalterischer Praxis, vor allem auf Bildhauerei und Architektur. Davon abgesehen jedoch unterzieht er die Sicht- und Herangehensweisen der Disziplin einer umfassenden kritischen Revision. Diese beginnt bei der Terminologie. So verwendet Rüffer in Bezug auf die mittelalterlichen Werke allenfalls mit kritischer Distanz den Begriff der "Kunst". Das geschieht in programmatischer Absicht, möchte er doch zeigen, dass das Selbstverständnis des Faches Kunstgeschichte, mithin seine Gegenstände und Begriffe, von einem neuzeitlichen Kunstverständnis geprägt sind, das den Blick auf die vorneuzeitlichen Werke trübt. Um sich der Gestaltungspraxis sowie der Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte des Mittelalters wieder anzunähern, müssten gleichsam die jüngeren 'Epochen der Kunst' überbrückt und die mittelalterlichen Quellen neu gelesen werden. Dies macht sich Rüffer zur Aufgabe.
Die von ihm herangezogenen Quellen sind fast ausschließlich Textquellen, von den Schriften der Kirchenväter bis zur Kunsttheorie der Renaissance, aber auch 'praxisnähere' Texte wie Baurechnungen, Werkverträge oder Inschriften. Es ist ein überaus reiches Quellenrepertoire, aus dem Rüffer schöpft, um einer Reihe grundlegender, freilich sehr heterogener Fragen nachzugehen. Er bündelt diese in drei größeren Fragekomplexen, die den im Buchtitel genannten Themen "Werkprozess - Wahrnehmung - Interpretation" entsprechen. Allerdings vermag keiner dieser Begriffe die große Vielfalt des in den jeweiligen Kapiteln Erörterten auch nur annähernd zu erfassen.
So handelt der erste Teil des Buches ("Das Problem der 'Kunst': Ars - artifex - opus artificiale") nicht nur über die eigentlichen Gestaltungsprozesse in den Bauhütten und Werkstätten, soweit sie sich aus den Rechnungs- und Vertragsdokumenten rekonstruieren lassen, sondern auch über das mittelalterliche Verständnis von ars im Allgemeinen und den verschiedenen artes im Besonderen sowie über Selbstverständnis, Aufgaben und Status bestimmter artifices. Rüffer bietet in diesen Kapiteln neben einigen Neuerkenntnissen auch manch Altbekanntes - das aber nur selten mit solch profunder Quellenkenntnis und analytischer Schärfe dargestellt wurde. Grundsätzlich problematisch erscheint jedoch sein Ansatz, die mittelalterlichen Werkleute und ihre Tätigkeiten in erster Linie negativ zu charakterisieren, insofern primär hervorgehoben wird, was sie im Vergleich zum Idealtypus eines neuzeitlichen Künstlers noch nicht waren und was sie noch nicht taten. Dieses Vorgehen führt zu wohltuend deutlich formulierten Korrekturen von Forschungsmeinungen, birgt aber die Gefahr, Grenzen zu stark zu betonen, die Verbindungslinien zwischen Mittelalter und Neuzeit zu kappen, mithin die Renaissancekünstler zu entwurzeln.
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit der "Wahrnehmung mittelalterlicher Sakralarchitektur und Bauskulptur". Eingeleitet wird er durch Anmerkungen zur sinnlichen Wahrnehmung, zur Vorstellungskraft sowie zu Raum- und Zeitkonzeptionen aus Sicht mittelalterlicher Autoren. Es folgen exemplarische Analysen dreier im 12. Jahrhundert verfasster Beschreibungen von Kirchenbauten und -ausstattungen: Sugers Schriften über St. Denis, der Liber Sancti Jacobi über die Kathedrale von Santiago de Compostela sowie Gervasius' Chronik des Neubaus des Kathedralchors in Canterbury.
Der dritte und letzte Teil des Buches schließlich ("Zur Funktion, Konstruktion und Deutung der Bildwerke baugebundener Sakralskulptur") erörtert verschiedene Ansätze der Interpretation mittelalterlicher Bildwerke, wobei mit der um 1100 in den Kirchen und Klöstern am Jakobsweg entstandenen Bauskulptur eine hochbedeutende, aber auch problematische, weil vielgestaltige und in ihrer Deutung stark umstrittene Werkgruppe in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt wurde. In geschickter Engführung der Argumentation lässt Rüffer, nach Ausführungen zu den Grundlagen der Bilddeutung im Mittelalter, seine Studie in einer abschließenden These kulminieren: Anknüpfend an Arbeiten von Mary J. Carruthers schlägt er vor, die Bildfindungsprozesse dieser frühen Bauskulptur "strukturell in Analogie zur Kreation mentaler Bilder nach Prinzipien der erweiterten Mnemotechnik" (37) zu verstehen. [1] Der Reichtum der Bildschöpfungen romanischer Bauskulptur entsprach demzufolge der Vielfalt der individuellen Vorstellungswelten der Bildentwerfer. Erst nach der Mitte des 12. Jahrhunderts seien die Bildthemen und -kompositionen in einem begrenzten Repertoire allgemein verständlicher ikonografischer Typen verstetigt worden.
Man wäre dankbar, hätte Rüffer diese (und andere) meist auf einer abstrakten Ebene verbleibenden Überlegungen an Werkbeispielen konkretisiert. Eines der wenigen in diesem Kontext besprochenen Objekte, ein Kreuzgangkapitell aus Moissac mit Darstellungen der Transfiguration (500-502), erfüllt diesen Zweck gerade nicht, denn an seinem Beispiel lassen sich nur die Herausforderungen der Umsetzung eines bereits bestehenden (etwa in der Buchmalerei vorgeprägten) ikonografischen Bildtypus auf die vier Seiten eines Kapitellkörpers nachvollziehen. Der Kern der These zu den individuellen Bildfindungsprozessen der frühen figürlichen Bauskulptur bleibt davon unberührt.
An diesem Beispiel zeigt sich ein grundlegendes Problem des Buches: Die Objekte spielen eine untergeordnete, in manchen Kapiteln auch gar keine Rolle. So droht die entlang der Textquellen geführte Argumentation sich zu verselbständigen; oft bleibt unklar, für welche Objekte und in welcher Weise die Überlegungen Geltung beanspruchen. Zudem erreichen die wenigen Werkanalysen nie die Qualität und Präzision der Textanalysen. Insofern ist es nur konsequent, dass stärker objektbezogene kunsthistorische Studien ebenso wenig Beachtung finden wie die Studien jener Fächer und Fachrichtungen, die ihre Erkenntnisse primär am Objekt gewinnen - dabei hätten gerade Restauratoren oder Bauforscher Wesentliches zum Thema Werkprozess beizutragen. Rüffer reduziert, um nur ein Beispiel zu nennen, die vielstimmige Forschungsdiskussion zur Frage, ob Peter Parler, der Werkmeister des Prager Veitsdoms, zugleich Bildhauer gewesen sei, auf eine kritische Relektüre weniger, letztlich nichtssagender, da die These der bildhauerischen Tätigkeit Parlers weder belegender noch widerlegender Textquellen (173-180). [2] Darin offenbart sich eine prinzipielle Skepsis gegenüber der Aussagekraft der Objekte, die sich bereits in der eingangs des Buches bemühten impliziten Gleichsetzung mittelalterlicher Werke mit einem solch programmatisch vieldeutigen, irritierenden und individualistischen Werk wie Dieter Roths Gartenskulptur ankündigt.
Diese kritischen Anmerkungen können die Leistung Rüffers nicht schmälern: Er hat ein in Umfang und Inhalt gewichtiges Werk vorgelegt, dessen Themen- und Gedankenreichtum auch nur anzudeuten in diesem Rahmen unmöglich ist. Umso nachdrücklicher sei jedem Kunsthistoriker, der sich mit mittelalterlichen Werken gleich welcher Gattung beschäftigt, empfohlen, selbst zu prüfen, inwieweit sich mithilfe dieses Buches eine Brücke zu seinen Gegenständen schlagen lässt.
Anmerkungen:
[1] Mary J. Carruthers: The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images (400-1200) (= Cambridge studies in medieval literature; Vol. 34), Cambridge 2000.
[2] Im Übrigen muss auch die Frage offen bleiben, ob der Typus des "Bildhauer-Architekten", wie Rüffer behauptet, tatsächlich eine Rückprojektion des Idealtypus des Renaissance-Universalkünstlers auf vorangehende Epochen ist oder nicht doch ein verbreitetes Berufsprofil in einer sich erst allmählich ausdifferenzierenden Arbeitswelt, in der (zumal es noch keine eigenständige Architektenausbildung gab) die Werkmeister in der Regel aus den steinbearbeitenden Gewerken, also auch aus der Gruppe der Bildhauer, rekrutiert wurden.
Sascha Köhl