Ines Reich / Maria Schultz (Hgg.): Sprechende Wände. Häftlingsinschriften im Gefängnis Leistikowstraße Potsdam (= Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten; Bd. 13), Berlin: Metropol 2015, 464 S., ISBN 978-3-86331-147-6, EUR 24,00
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Die Gedenkstätte Leistikowstraße hat vor Jahren mit einer gut kuratierten, jedoch kontrovers diskutierten ständigen Ausstellung von sich reden gemacht. [1] Der nun von Ines Reich und Maria Schultz herausgegebene und anspruchsvoll gestaltete Band bietet Ergebnisse eines ebenso aufwändigen wie wichtigen Forschungsprojekts der Einrichtung. Früher, von 1945 bis 1991, befand sich dort ein Untersuchungs- und Transitgefängnis der sowjetischen militärischen Spionageabwehr. Die Gesamtzahl der Insassen ist bis heute unbekannt. Unstrittig ist, dass Militärs und Zivilangestellte der sowjetischen Streitkräfte das Gros der Häftlinge ausmachten. Ihnen legten die Behörden politische, insbesondere ab den 1950er-Jahren vor allem Kriminalverbrechen zur Last. Daneben kamen bis 1954/1955 Deutsche ebenfalls in das Gefängnis. Sie wurden ausnahmslos "konterrevolutionärer", d.h. politischer, Vergehen beschuldigt. Heute lassen in der Leistikowstraße die früheren Zellen die Torturen des stalinistischen Strafsystems wie die extremen Haftbedingungen auch post-stalinistischer Jahre erahnen. Dazu tragen nicht zuletzt die 1500 erhalten gebliebenen Inschriften bei, die Insassen während ihres Aufenthalts in den kalten und kargen Zellen mit Nägeln oder anderen in die Haft geschmuggelten Gegenständen in den Putz ritzten. 900 davon sind Textnachrichten, von denen 400 in deutscher und 500 in russischer Sprache verfasst sind. Analog zu anderen Erinnerungsstätten, die an ehemaligen Haftorten entstanden und die Spuren der früheren Verfolgungen sichern, hat es sich auch die Gedenkstätte Leistikowstraße zur Aufgabe gemacht, diese Inschriften in mühevoller Kleinarbeit zu restaurieren, sie zu konservieren sowie die dahinter verborgenen Biografien zu rekonstruieren und bekannt zu machen. Damit greifen in der Aufarbeitung Perspektiven von individuellem und gesellschaftlichem Gedenken, der offiziellen Erinnerungspolitik sowie der Geschichtsforschung ineinander. In der konkreten Verbindung von Archäologie und Zeitgeschichte rückt der Band rund 160 Schicksale deutscher Häftlinge aus dem vergessenen Dunkel der Zellen ins Licht. Dass die russischen Inschriften des Zellentrakts nur in einer ersten Kollektivbiografie behandelt werden können, ist vor allem der schwierigen Aktenlage geschuldet.
Die Autoren und Autorinnen erheben zu Recht nicht den Anspruch, mit ihrem Zugriff Lebensverläufe nachzuzeichnen, die für die Gesamtzahl der Häftlinge repräsentativ wären - dies ist aufgrund der Überlieferungsbedingungen der Textbruchstücke und der aktuellen Archivlage gar nicht zu leisten. Ungeachtet dessen kann die biografische Aufbereitung geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse und Diskussionen über den deutschen Widerstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht und das SED-Regime, über Lebenswelten in Ostdeutschland, über geheimdienstliche Aktivitäten im frühen Kalten Krieg oder über wichtige Entwicklungen in der Geschichte von sowjetischem Militär und Gesellschaft ergänzen, vertiefen und anschaulich machen. Dies gelingt, indem die Skizzen die Forschungsliteratur und Archivunterlagen von so unterschiedlichen Institutionen wie dem Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, des Standesamts Fürstenberg/Havel, der WASt, der BStU und verschiedener Regionalarchive zusammenführen. Zudem konnten die Bearbeiter und Bearbeiterinnen noch einzelne Zeitzeugen sowie Familienangehörige ausfindig machen. Nur in zwei Punkten ist Kritik zu üben. Der Titel der Publikation ist durchaus etwas abgenutzt, wie bereits das Literaturverzeichnis ausweist. Auch der zweite Punkt betrifft eher die Form als den Inhalt. In den Einzelbiografien werden häufig und gleichförmig historische Hintergründe beschrieben. Das betrifft beispielsweise die Kerncharakteristika sowjetischer Justiz - fehlende Rechtsstaatlichkeit - oder die Destalinisierung sowie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau als Kontext der Entlassungen aus dem Gulag 1953/1954 und 1955. Von Bedeutung sind in dem Zusammenhang auch wesentliche Tätigkeitsmerkmale westlicher Nachrichtendienste oder der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Angesichts der zahlreichen Wiederholungen in den Einzelbiografien wäre es wohl eine gute Alternative gewesen, wenn sich die Herausgeberinnen über die Gesamteinleitung hinaus für eine geballte Kurzeinführung mit entsprechenden Rückverweisen entschieden hätten.
Im Zentrum des Bands stehen 49 Biografien ehemaliger deutscher Häftlinge, die in unterschiedlicher Dichte dokumentierbar sind. Aufgrund der damaligen Gruppenverhaftungen werden, wie erwähnt, insgesamt gut 160 Personen behandelt. Das Autorenteam bietet für alle Personen, soweit recherchierbar, Grunddaten des Lebensverlaufs. Biografische Muster können sich hier nicht wirklich erschließen. Insgesamt zeigen die Beschreibungen sehr unterschiedliche Lebenssituationen auf, aus denen heraus Deutsche in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR in sowjetische Haft geraten konnten. Dies begann bei der alltäglichen Not der Nachkriegsjahre. Doch auch Liebesbeziehungen zu sowjetischen Soldaten, politische Oppositionstätigkeit oder auch eindeutige Spionageeinsätze lassen sich als letzte Ursachen für die sowjetische Strafverfolgung ausmachen. Zugleich verdeutlichen die Kurzessays, wie schwierig oftmals die historische Bewertung und Einordnung komplexer Lebenssituationen mit ihren gemischten Motivlagen und widersprüchlichen zeitgenössischen Wahrnehmungen ist. Alle Fälle belegen die unbarmherzige Härte stalinistischer Ermittlungs- und Justizapparate. Die Einträge dokumentieren, dass die Überlebenden vielfach langfristige Schäden an Leib und Leben davon getragen haben. Ehemalige Häftlinge können zum Teil bis heute nicht über ihre Erfahrungen der 1940er- und 1950er-Jahre sprechen. Die Angehörigen der Verhafteten wurden ihrerseits zumindest indirekt in den Strudel der Straf- und Verfolgungspolitik hineingezogen oder trugen eigene Wunden davon. Mitunter haben ihnen erst die in dem Band vorgestellten Forschungen Gewissheit über das Schicksal von verschollenen Verwandten verschafft.
Abschließend bietet der Beitrag von Natalia Jeske eine anregende Beschreibung der russischen Inschriften. Bereits deren Aufbau spiegelt die grundlegend anderen Ausgangssituationen dieser Häftlingsgruppen wider: Fern der Heimat, gewinnt ihr Herkunftsort als Chiffre des Heimwehs eigene Bedeutung. Daneben heben sich gerade spätere Kurztexte mitunter durch ihre rüdere Sprache und eine verhaltene Aggressivität von den deutschen Lebenszeichen der 1950er-Jahre ab. In ihrer Hintergrundanalyse verknüpft Jeske mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der sukzessive fühlbaren Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation relevante Dimensionen der sowjetischen militär- und gesellschaftspolitischen Entwicklung der (späteren) UdSSR, die diese Unterschiede mit erklären können. Auch daher erscheint die Geschichte der Haftanstalt Leistikowstraße und ihrer Häftlinge als Verflechtungsgeschichte par excellence, in der sich innersowjetische Entwicklungen, Prozesse in den sowjetischen Streitkräften in Deutschland sowie die Geschichte deutsch-sowjetischer Beziehungen in individuellen Erfahrungen bündeln.
Anmerkung:
[1] Vgl. den Katalog: Ines Reich / Maria Schultz (Hgg.): Sowjetisches Untersuchungsgefängnis Leistikowstraße Potsdam, Berlin 2012. Zur Debatte vgl. Wolfgang Benz (Hg.): Ein Kampf um Deutungshoheit. Politik, Opferinteressen und Historische Forschung. Die Auseinandersetzungen um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam, Berlin 2013.
Andreas Hilger