Rezension über:

Johannes Ludewig: Unternehmen Wiedervereinigung. Von Planern, Machern, Visionären, Berlin: Osburg Verlag 2015, 288 S., ISBN 978-3-95510-076-6, EUR 22,00
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Rezension von:
Marcus Böick
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Michael C. Schneider
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Böick: Rezension von: Johannes Ludewig: Unternehmen Wiedervereinigung. Von Planern, Machern, Visionären, Berlin: Osburg Verlag 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/02/26997.html


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Johannes Ludewig: Unternehmen Wiedervereinigung

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Es gibt wohl kaum einen Abschnitt der jüngsten deutschen Geschichte, der so dicht aus der Perspektive der handelnden Akteure beschrieben wurde wie die Revolution in der DDR im Jahr 1989 und die Vereinigung der beiden Staaten im Jahr 1990. Bereits ausgesprochen zeitnah griffen zahlreiche Akteure zur Feder bzw. zum Diktiergerät: Wolfgang Schäuble, als damaliger Bundesinnenminister maßgeblich an den deutsch-deutschen Verhandlungen des Sommers 1990 beteiligt, nutzte die Zeit seiner Rehabilitation nach einem Attentat im Oktober 1990 zur unmittelbaren Niederschrift seiner persönlichen Erinnerungen. [1] Diesem Beispiel folgte nicht nur das nunmehr weitgehend beschäftigungslose Spitzenpersonal des abgetretenen SED-Regimes, das sich überwiegend in apologetischen Rückschauen erging [2], sondern auch ein ganzer Reigen an westdeutschen Politikern und Spitzenbeamten: So berichtete Bundesfinanzminister Theo Waigel über seine Aufenthalte in der UdSSR, der damalige Staatssekretär Horst Köhler über die Verhandlungsrunden mit der DDR-Regierung sowie der seinerzeitige Referatsleiter Thilo Sarrazin über die aufreibende Ideensuche zum Jahreswechsel 1989/90. [3]

Mit Johannes Ludewig legt ein weiterer Protagonist der Bonner Führungsebene eine eigene Rückschau vor, dessen Blick auf die wirtschaftshistorischen Aspekte des langfristigen Vereinigungsprozesses ausgerichtet ist: Seit Mitte der 1970er-Jahre als studierter und promovierter Wirtschaftswissenschaftler im Bundeswirtschaftsministerium aktiv, war Ludewig nach dem Regierungswechsel 1982 ins Bundeskanzleramt gewechselt und dort 1991 zum Abteilungsleiter für Wirtschafts- und Finanzpolitik aufgestiegen; schon bald koordinierte er (ab 1995 im Range eines Staatssekretärs) die Politik der Bundesregierung für die fünf "neuen Länder" im Osten der wiedervereinten Republik, bevor er von 1997 bis 1999 als Vorstandsvorsitzender zur Deutschen Bahn AG wechselte.

Der gebürtige Hamburger kann damit als eine der Schlüsselfiguren der praktischen Ausgestaltung der deutschen "Vereinigung" bzw. des "Aufbau Ost" auf der Ebene unmittelbar unterhalb des in der Öffentlichkeit stehenden politischen Spitzenpersonals gelten. Diese Umbruchszeit beschreibt Ludewig gleich in den ersten Sätzen seines Buches als "aufregender, spannender, motivierender und fordernder als jede andere" seines Lebens; man habe "über Nacht vor einer noch nie dagewesenen Herausforderung" gestanden, deren "Bewältigung ebenfalls noch nie dagewesene Arbeitsweisen und Arbeitszeiten" erforderlich gemacht habe (9). Ludewig will grundlegende "Überlegungen", entscheidende "Akteure" und die konkrete "Organisation" der Umbrüche beschreiben und wählt hierfür einen kraftvollen Titel: Es geht ihm um das "Unternehmen Wiedervereinigung", genauer gesagt um die beteiligten "Planer, Macher und Visionäre". Gerade in historischen "Ausnahmesituationen" träten die handelnden Persönlichkeiten in den Vordergrund, und nicht etwa formale "Rechenformeln oder Verwaltungsabläufe": "Entscheidend sind immer Menschen und Persönlichkeiten", also die Figuren, die "in der Pflicht stehen, mit anzupacken und mitzuhelfen, die große, gemeinsame Herausforderung zu bestehen" (10f.).

Damit ist der charakteristische Grundton gesetzt: Auf knapp 300 Seiten beschreibt Ludewig ein einmaliges, heroisch-patriotisches Ausnahmeszenario in Ostdeutschland quasi durch den Feldstecher der Bonner Kommandohöhen, unter Berücksichtigung der dort aktiven bundesdeutschen Führungskräfte. In einem ersten Kapitel widmet er sich, auf Grundlage des eigenen Notizbuches, detailliert und im Tagestakt der "Woche der Entscheidungen": Mitte Mai 1990 seien wesentliche Grundsatzentscheidungen zur zukünftigen Ausgestaltung des "Einigungsprozesses" gefallen - allen voran die Unterzeichnung des Vertrages zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Das zweite Kapitel ist demgegenüber dem ostdeutschen CDU-Politiker Günther Krause gewidmet, dessen "ungewöhnliche[ ] Verdienste" Ludewig in Erinnerung rufen möchte (31). Sodann springt er im folgenden Abschnitt zurück ins Frühjahr 1990, um den grundlegenden Weichenstellungen in Bonn nachzuspüren. Diese ersten drei Kapitel stehen damit paradigmatisch für die tragenden Säulen des Buches, in dessen Mittelpunkt Ereignisse, Persönlichkeiten, Entscheidungen und Ideen stehen. Auch die folgenden Kapitel arbeiten sich durch die zentralen Themen des bald sogenannten "Aufbau Ost": die offenen Vermögensfragen ("Fast-Stolperstein") werden ebenso abgehandelt wie die Treuhandanstalt ("im Auge des Taifuns"), deren Arbeit und Ergebnisse Ludewig vehement verteidigt.

Den 1992/93 aufbrechenden, politischen Grundsatzkonflikt um den Erhalt "industrieller Kerne" behandelt Ludewig ausführlich, wobei er insbesondere die industriepolitischen Gegenvorschläge der Opposition aus SPD, Grünen und PDS sowie der Gewerkschaften kritisiert und sich im Umgang mit seinen zeitgenössischen Gegenspielern noch immer unversöhnlich zeigt. Im Kontrast hierzu widmet er den ostdeutschen Betriebsräten ein eigenes Kapitel, in dem er diese Gruppe als pragmatische "Eckpfeiler vor Ort" beschreibt (150). Der milliardenträchtigen Finanzierung der "Jahrhundertaufgabe" ist ein weiteres Kapitel gewidmet, in dem die westdeutschen, meist SPD-regierten Länder wegen ihres zurückhaltenden Engagements kritisiert werden. Den Abschluss des Buches bilden zwei Kapitel, die Persönlichkeiten thematisieren: Während Ludewig den beiden von der RAF ermordeten Managern Detlev Rohwedder und Alfred Herrhausen einen Nekrolog widmet, da sie einen Typus repräsentierten, der "Führungspersonal in Normalzeiten" in eine patriotische "Avantgarde für Aufbruchszeiten" hätte verwandeln können (234). Schließlich rückt nun auch Ludewigs eigentliche Heldenfigur in den Mittelpunkt: Bundeskanzler Helmut Kohl. Für seinen früheren Vertrauten war dieser unbestritten der entscheidende "Mann der Stunde", der als "Architekt, Regisseur und Antreiber" das historische und erfolgreiche "Unternehmen Wiedervereinigung" vorangetrieben und "im Zweifel für Ostdeutschland" gehandelt habe (208).

Insgesamt hat Ludewig mit seinem Buch eine Mischung aus persönlichen Memoiren und faktenorientiertem Sachbuch vorgelegt, das interessante Einblicke in die Zentralperspektive des Bonner "Schaltzentrums" des "Aufbau Ost" gewährt: Hierfür kombiniert er affirmative Befunde der zeitgenössischen Transformationsforschung aus der Makroperspektive mit seinen persönlichen Erinnerungen. Der Autor schreibt durchaus unterhaltsam und weiß dabei so manche Insider-Anekdote zu berichten, bleibt aber immer ein engagierter Zeitzeuge mit klarer parteipolitischer Orientierung: Die wirtschaftspolitischen Aktivitäten von christdemokratisch-liberaler Bundesregierung und Treuhandanstalt erscheinen so als alternativlos und erfolgreich, wobei zupackende wie patriotische "Macher" wie Kohl, Krause oder Rohwedder mit stets bremsenden "Nörglern" aufseiten der linken Opposition kontrastiert werden. In Ludewigs Retrospektive finden sich so zentrale Motive und (Selbst-)Deutungsfiguren dieser besonderen Gruppe aus liberalkonservativen, westdeutschen Politikern, Beamten und Managern wieder, die in den frühen 1990er-Jahren maßgeblich die "Transformation" Ostdeutschlands gestaltet haben: "Regieren in quasirevolutionären Zeiten" könne "durchaus auch Spaß" machen, wie der Autor schwärmerisch in einer Passage mit Blick auf die eigenen Handlungs- und Gestaltungsräume ausführt: "Für Bürokratie und lange Dienstwege ist einfach keine Zeit. Und das Erstaunliche ist: Niemand regt sich darüber auf, alle arbeiten engagiert mit. Es ist einfach so. Und wenn doch einmal Sand ins Entscheidungsgetriebe Ost kommt, kann ich mit der Rückendeckung des Bundeskanzlers in aller Regel den Knoten durchhauen." (147)


Anmerkungen:

[1] Wolfgang Schäuble: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991.

[2] Exemplarisch: Günter Mittag: Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin 1991; Günter Schabowski: Der Absturz, Berlin 1991; Hans Modrow: Aufbruch und Ende, Berlin 1991.

[3] Theodor Waigel / Manfred Schell (Hgg.): Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus: die deutsche Währungsunion, München 1994.

Marcus Böick