Elisabeth Haid / Stephanie Weismann / Burkhard Wöller (Hgg.): Galizien. Peripherie der Moderne - Moderne der Peripherie? (= Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung; 31), Marburg: Herder-Institut 2013, VIII + 216 S., ISBN 978-3-87969-379-5, EUR 28,50
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Nachdem erste Ergebnisse des Doktoratskollegs "Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe" der Wiener Universität 2009 vorgestellt wurden [1], werden in dem vorliegenden Band Forschungsergebnisse der seinerzeit neuen Teilnehmer/innen des Kollegs publiziert. Die in diesem Band veröffentlichten zwölf Beiträge über Galizien basieren auf den Vorträgen, die während eines vom 9. bis 11. November 2011 an der Universität Wien unter gleichem Titel stattgefundenen Workshops gehalten wurden. Das Kolleg, an dem Doktorand/inn/en aus verschiedenen Ländern teilnehmen, verpflichtet sich einer transdisziplinären Forschung mit neuen methodologische Ansätzen, die einerseits zu neuen Ergebnissen in der Galizienforschung führen und andererseits neue Impulse zur kritischen Hinterfragung vermeintlich bekannter Tatsachen geben soll, wie Alois Woldan, der Sprecher des Doktoratskollegs, in seinem Vorwort betont (VIII).
Die drei Herausgeber/innen weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dass "einerseits Facetten der Moderne um Galizien beleuchtet, aber auch galizische Ausprägungen und Phänomene der Moderne untersucht werden" sollen (10). Den Beiträgen der Doktorand/inn/en sowie Absolventen des Doktoratskollegs ist ein einleitender Aufsatz zu den Mehrdeutigkeiten der Begriffe "Moderne" und "Peripherie" von Moritz Csáky vorangestellt, der sich diesem Thema bereits in einer Monografie intensiv gewidmet hat. [2] Der Sammelband ist in vier Themenbereiche eingeteilt. Im ersten Themenbereich "Galizien in Diskursen über die Moderne" befasst sich Nadja Weck mit der Errichtung des ersten Bahnhofsgebäudes im Wienerischen Kasernenstil in Lemberg (Lwów, L'viv) im Jahr 1861, wodurch eine Annäherung zwischen galizischer Peripherie und Zentrum der Habsburgermonarchie auch auf dem Schienenweg gewährleistet wurde. Weck zufolge sei aber erst das 1904 errichtete, von jungen galizischen Architekten entworfene Bahnhofsgebäude Ausdruck des Selbstbewusstseins und der Repräsentationsbedürfnisse der städtischen Elite gewesen - es war dem Jugendstil verpflichtet, repräsentativ und mit modernster Technik ausgerüstet. Burkhard Wöller widmet sich den verschiedenen Diskursen über Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit des Fürstentums Halicz-Wolhynien (Halyč-Volyn') in der galizischen Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts, die von polnischen und ruthenischen Historikern meist kontrovers geführt wurde. Angesichts der aktuellen Lage in der Ukraine sind seine Verweise auf ruthenische Autoren, die dem Fürstentum Halicz-Wolhynien eine prowestliche Orientierung zuschrieben, besonders interessant. Dem Verfasser zufolge sei es den ukrainophilen galizischen Historikern "um die Darstellung eines Süd-Nord-Entwicklungsgefälles als Beweis für die fundamentale Verschiedenheit von Moskau und Rus'" (57) gegangen. Elisabeth Haid untersucht in ihrem Beitrag am Beispiel von Wiener Tageszeitungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung die Umdeutung der peripheren Region Galizien im Ersten Weltkrieg. Haid zufolge wird in den von ihr ausgewerteten Presseartikeln dem Krieg ein deutlicher Modernisierungsfaktor für Galizien zugewiesen und das kurz zuvor noch als rückständig angesehene Kronland nun als bedeutender östlicher Kriegsschauplatz zum "Bollwerk des Westens" oder auch zum "Bollwerk gegen Russland" (65) stilisiert. Mit einem literarischen Thema befasst sich Stephanie Weismann, die sich "der Modernität der Peripherie bei Leopold von Sacher-Masoch" widmet und dessen Idealisierung der Lebenswelt der ruthenischen Bauern in seinen Erzählungen hinterfragt.
Im zweiten Themenbereich "Galizien im Zeichen der Modernisierung" stellt Lesya Ivasyuk in ihrem Beitrag die These auf, dass die polnische Revolution des Jahres 1846 in Galizien ein Modernisierungspotenzial gehabt habe und dass sich nach dem Aufstand sowohl der österreichische Staat als auch die gescheiterten polnischen Revolutionäre mit neuen Strategien und modernen Mitteln auseinandersetzen mussten, um ihren Zielen näher zu kommen. Als Grundlage ihrer Überlegungen zieht sie das 1863 in Prag anonym erschienene Werk Polnische Revolutionen. Erinnerungen aus Galizien, dessen Urheberschaft dem Lemberger Polizeidirektor Leopold von Sacher-Masoch beziehungsweise seinem gleichnamigen Sohn zugeschrieben wird. Für diesen Beitrag wäre es von besonderer Bedeutung gewesen, entsprechende Nachforschungen in den Archiven durchzuführen, um diese offene Frage zu klären. Einen Überblick über die Modernisierungsmaßnahmen innerhalb der österreichischen Armee, die die 1868 durchgeführten Militärreformen bewirkten, gibt Serhiy Choliy, der sich auf Material aus Lemberger und Wiener Archiven stützt. Er zeigt auf, dass der Militärdienst den galizischen Rekruten die Möglichkeit bot, ihren Erfahrungshorizont durch die militärische Ausbildung, den häufigen Standortwechsel der Garnisonen und das Kennenlernen anderer Kronländer der Habsburgermonarchie zu erweitern und in Spezialkursen berufliche Qualifikationen zu erwerben, die ihnen eine Karriere sowohl im Militär- als auch im Zivildienst ermöglichten. Der Absolvent des Doktoratskollegs Börries Kuzmany widmet sich dem im Juli 1904 in Kraft getretenen Landtagswahlgesetz, das weitgehende Kompromisse für einen Interessenausgleich zwischen Polen und Ruthenen vorsah und dem Verfasser zufolge einen besonderen Modernisierungsschub besaß, jedoch aufgrund des Kriegsausbruchs nicht mehr umgesetzt werden konnte.
Im dritten Themenbereich "Galizien - Kaleidoskop moderner Ideologien und Identitätskrisen" geht Lyubomyr Borakovskyy der Frage nach, wie die Haltung der ruthenischen Geistlichkeit gegenüber den Modernisierungsbestrebungen in Galizien in den Werken der ukrainischen Schriftsteller Ivan Franko und Osyp Makovej literarisch dargestellt wird. Anna Krachovska widmet sich in ihrem Beitrag dem Problem der Entwicklung des modernen Antisemitismus und der "traditionellen Judophobie" (159) in der galizischen Bevölkerung. Katharina Krčal analysiert die Clownfigur in dem epischen Gedicht Bajazzo des weniger bekannten jüdischen Dichters und Schriftstellers Moritz Rappaport, der als angesehener Arzt in Lemberg wirkte. In ihrer Interpretation des Gedichtes hebt sie den "Drahtseilakt" des zwischen jüdischer Identität und Assimilationsdruck schwankenden Clowns hervor.
Im letzten Themenbereich "Galizien als postmoderner Erinnerungsraum" befasst sich Marianne Windsperger "mit Bildern des vormodernen Schtetls und Mythen der Migration" in den beiden Romanen von Rebecca Goldstein (Mazel, 1995) und Dara Horn (In the Image, 2002), die die Geschichte von Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika ausgewanderten galizisch-jüdischen Familien rekonstruieren. Dieser Abschnitt endet mit Anna Susaks Auswertung galizischer Themen in zwei polnischen Zeitungen (Gazeta Wyborcza, Dziennik Polski) sowie in zwei ukrainischen Internetzeitungen (Ukrajins'ka Pravda, Zaxid.net) in den Jahren 2010 und 2011.
Auch wenn die Unterordnung der verschiedenen Beiträge unter dem Begriff der Moderne bisweilen etwas gezwungen erscheint, geben die Beiträge in diesem Sammelband einen guten Überblick über neue Forschungsbereiche zur Geschichte, Kultur und Literatur Galiziens in Zeiten der Moderne sowie einen Ausblick auf das besondere Potenzial Galiziens als Erinnerungsraum in der Gegenwart.
Anmerkungen:
[1]:Galizien. Fragmente eines diskursiven Raums, Innsbruck 2009.
[2]:Moritz Csáky: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen - Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien u.a. 2010.
Isabel Röskau-Rydel