Marianne O'Doherty: The Indies and the Medieval West. Thought, Report, Imagination (= Medieval Voyaging; Vol. 2), Turnhout: Brepols 2013, XIV + 380 S., ISBN 978-2-503-53276-9, EUR 90,00
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Mittelalterliche Weltentdeckung zwischen der Realität von Reisen und den Köpfen der Daheimgebliebenen wird oft zu "einem" Weltbild einer ganzen kulturellen Großgruppe agglomeriert, und Versuche, zu hier notwendigen Differenzierungen zu kommen, sind seit etwa drei Jahrzehnten ein Thema der Kulturwissenschaften. Vorliegend kommt aus England eine gründliche Betrachtung dessen, was vor der "magischen" Grenze von 1492/93 von Indien wirklich bekannt war, wohin also konkret die Portugiesen und auch Columbus strebten, was sie erwarteten. Dabei ist das Thema "Indien" komplex, stand der Name doch schon seit der Antike als Sigle für weite Gebiete ganz im Osten der Erde und hier für alexandrinische Wunder und biblische Extreme, und hatte er auch moralische und allegorische Implikationen und Konnotationen, die ein sehr breites Spektrum zwischen beängstigend und heilsversprechend in Welterklärung, Predigt oder poetischem Staunen und Schaudern, Kreuzzugshoffnungen und Weltmissionsstreben einnahm: Indien als eine Idee, die zugleich ein Raum ist (2: "for medieval Western Europe at once abstract concept and realm of imagination, as well as perceived and experienced as lived, travelled space"), der regional so unterschiedliche Weltregionen wie China und Äthiopien meinen konnte. Schon im Titel spielt die Autorin zum Nachvollzug dieser Erkenntnis mit einem Plural, der im Deutschen kaum wiederzugeben ist: India/ Indiae oder the Indies sind, ganz mittelalterlich im Geiste des Vierfachen Schriftsinns, ein Konglomerat der verschiedensten Fakten, Vorstellungen und Bedeutungen, die sich jedem Versuch einer widerspruchsfreien Definition entziehen.
Marianne O'Doherty überblickt die Breite der westlichen (lateinischen und volkssprachigen aus Lateineuropa) mittelalterlichen Überlieferung nicht zuletzt in den Handschriften aus zahlreichen europäischen Sammlungen, bei denen auch die Marginal-Kommentartradition berücksichtigt wird ("customizing travellers' Indies: Marginalia", 182ff.). Zwei Appendices schlüsseln die Handschriftenüberlieferung der im zweiten Teil des Buches (der sich mit dem unterschiedlichen Bild von Indien beschäftigt, das entsteht, wenn man die den volkssprachigen Lesern zugänglichen Informationen sorgfältig von denen für lateinische Leser trennt) diskutierten volkssprachigen und lateinischen Traditionen von Marco Polo, Odorico da Pordenone und Poggio Bracciolini sprachlich und regional auf.
Der Schwerpunkt des Buches liegt auf dem 12.-15. Jahrhundert und damit der Zeit, in dem sich Menschen aus dem lateinischen Westen immer zahlreicher über die Grenzen der eigenen geographischen und kulturellen Sphäre hinaus aufmachten, die Welt anzuschauen, von der sie bis dahin aus Büchern und Erzählungen wussten. Um das bekannte Gewebe aus tradiertem Wissen und neuen Erfahrungen zu verstehen, arbeitet die Autorin zunächst die antike Tradition auf, um sich dann den spätmittelalterlichen Reisenden zu widmen, die Indien in welcher geographischen Definition auch immer erreichten ("Vere unus alter mundus. Traditions and Travellers", 13ff.). Unterschiedlichste Deutungen des Erforschten fließen schon hier ein: Machtbeobachtungen und Weltherrschaftsstreben stehen neben "Rebellion", wenn etwas Johannes von Marignola (in seiner faszinierenden, "idiosyncratic", so 86, Böhmischen Chronik) in einem seltenen Schritt aus dem biblischen Weltbild heraus ein abgelegenes Volkes beschreibt, das älter als die Sintflut zu sein behauptete.
Für den Bereich der Rezeption ("Embodied encounters" 105ff.) herangezogen wird dann ein breites Spektrum an Texten. Wie schon angesprochen, wird der Versuch unternommen, aus der Sprache der Texte auf die Möglichkeit des in unterschiedlichen Volkssprachen oder Latein lesenden Publikums zu schließen, sich ein Bild von Indien zu machen: "Changing places: the unstable India of vernacular readers" (105ff.); "A moral and geographical education: Latin accounts and their readers" (161ff.). Die Schritte sprechen für sich: "Audiences" (106-110);"Courtly readers and the Indies" (110f.); "Shaping readers' journey through the Indies: intertitles and mise-en-page" (111-119); "Illustrator's imagined Indies: landscape, environment, people's" 119-133; "The Indies and francophone readers: some conclusions" (133-147); "Volgare texts and their readers" (147-152); "The Indies in volgare: narrative, geography, marvel, and morality" (152-59) (so das Vernakular-Kapitel). Auch die Illustrationen der Handschriften geben wichtige Hinweise: So stellt die Autorin gerade an ihnen eine fast durchgängige Kommerzialisierung bei Beobachtungen und Erklärungen des Fremden fest.
In einem letzten Schritt geht es um Verortungen in unterschiedlichen Aspekten von Raum: "Debating diversity in an interconnected world: the Indies in the book of Sir John Mandeville" (203 ff.); "Placing the Indies in space and time: cartographic all representations, c 1200 - c 1450" (241 ff.). Dabei wird das bei weitem verbreitetste Werk der Reiseliteratur des europäischen Spätmittelalters war ("in poorly written rough copies belonging to individuals of modest means as well as in large, splendidly decorated copies belonging to dukes and princes", 203) des fiktiven Reisenden und enzyklopädisch gebildeten "Sir John Mandeville", das sich der Genre-Einordnung stets entzog, wegen seiner "formal innovation" aus den vorhergehenden Kapiteln herausgezogen. Hier kann die Autorin die Schwierigkeit festhalten, in die moderne Wissenschaft mit ihrem Streben nach Identifikation als ein bestimmtes Genre oder Buch gerät angesichts der genuinen Vielfalt ("generic multiplicity") des Werkes, das mehrere unserer Genres bedient, "ein Buch ebenso wie viele" ist und zugleich durch die vielfältige handschriftliche Überlieferung auch noch in vielen sehr unterschiedlichen Versionen existiert. Diese Vielfalt unterstreicht unter der Fragestellung des hier besprochenen Bandes, wie unmöglich es ist, ein einheitliches und widerspruchsfreies Indienbild festzuhalten, weil der Text vielfältig in Quellen und Aussagen ist und weil Abschriften, Marginalglossierungen, Übersetzungen und Vergemeinschaftungen auch die einzelnen Versionen unterschiedlich machen.
Die ausgewählt behandelten mittelalterlichen Weltkarten schließlich sind ähnlich wie die Handschriften ein Medium, das zwischen Text und Bild liegt: "The other edge: Northern European visions of the Far East" (248-262); "Navigation, evangelization, and apocalypse: the Indies of Pietro Vesconte's world maps and the Catalan Atlas" (262-280); "The Indies, Ptolemy, and the Rhetoric of Cartographic Modernity in Fifteenth Century Venice" (280-293),sind die systematischen Schritte der Betrachtung.
Zusammenfassend (297-304) kommt die Autorin auf die Leitthese zurück, dass die "multiple medieval Indies" "of the Medieval West are plural and unstable", mehr als nur das Wunderland im Osten, das westlicher Selbstbestätigung oder Infragestellung dient. Zum einen gab es die "different communities", die mit unterschiedlichen Perspektiven an die Informationen herangingen, ihrerseits Einfluss auf die Form nahmen, in der die Informationen vermittelt wurden und sich dabei veränderten. Zum anderen überlagerten sich auch Bedeutungsebenen innerhalb ein und desselben Kreises, und dem wird man nur unter Heranziehung der mittelalterlichen Hermeneutik des Vierfachen Schriftsinnes gerecht werden. Gelungen ist eine ausgesprochen vielfältige und zugleich gut durchstrukturierte und damit das Wirrwarr Indien für den modernen Leser begreifbar machende Darstellung.
Felicitas Schmieder