Hélène Vial: Poètes et orateurs dans l'Antiquité. Mises en scène réciproques (= Collection ERGA. Littératures et représentations de l'Antiquité et du Moyen Âge; 13), Clermont-Ferrand: Presses Universitaires Blaise Pascal 2013, 490 S., ISBN 978-2-8451-6500-7, EUR 25,00
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Michael Reichel (Hg.): Antike Autobiographien. Werke - Epochen - Gattungen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Peter Siewert / Luciana Aigner-Foresti (Hgg.): Föderalismus in der griechischen und römischen Antike, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Lucy Audley-Miller / Beate Dignas (eds.): Wandering Myths. Transcultural Uses of Myth in the Ancient World, Berlin: De Gruyter 2018
Das Buch bietet eine Sammlung von 22 Studien, die chronologisch, thematisch und methodisch eine enorme Spannweite aufweisen. Von Homer und der frühgriechischen Epik bis zu Autoren der Kaiserzeit wie Ailios Aristeides und Apuleius sowie über fast sämtliche wichtigen Gattungen der antiken griechisch-römischen Poesie und Prosa spannt sich der Bogen. Spezialisten für ganz unterschiedliche Gebiete der griechisch-römischen antiken Rhetorik und Poetik werden daher in diesem Sammelwerk mit Sicherheit einzelne anregende Beiträge finden. [1] Eine stärkere thematisch-methodische Fokussierung aller Beiträge oder zumindest aller jeweiligen Texte innerhalb der drei großen Abschnitte des Sammelbandes hätte allerdings nach Meinung des Rezensenten der ganzen Sammlung nicht geschadet. Vielleicht wäre auch ein konzises Abschlusskapitel, das die vielen Anregungen und wichtigen Beobachtungen einzelner Beiträge nochmals hätte zusammenführen können, wünschenswert gewesen. Einen nur partiellen Ersatz bietet Hélène Vials Einleitungskapitel mit dem originellen Titel "Ulysses et les Sirènes en dialogue" (9-17). Aus Raumgründen kann ich hier nicht auf alle 22 Studien einzeln eingehen, möchte aber die leitenden Fragestellungen der drei großen Teile der Sammlung aufzeigen und auf das Thema von Rhetorik und Poetik in Athen im 4. Jahrhundert v.Chr. etwas näher eingehen.
Wie von Vial bereits in ihrer Einleitung hervorgehoben und später immer wieder aus anderer Perspektive in den einzelnen Beiträgen betont wird, blieben in der griechisch-römischen Antike Poetik und Rhetorik epochenübergreifend sehr eng verwandte, sich wechselseitig immer wieder erneut befruchtende und ergänzende, aber auch konkurrierende Zwillingsdisziplinen mit einem großen gemeinsamen Fundus an sprachlichen Stilmitteln und Techniken. Auch die gesellschaftlichen Rollen von Dichtern und Rednern und die Erwartungen ihrer Auditorien bzw. Leser an poetische und rhetorische 'performances' in verschiedenen institutionalisierten religiösen und profanen Kontexten (Feste, Symposien, Theater, politische und gerichtliche Versammlungen) und zu diversen Gelegenheiten durchmischten und überlagerten sich bereits in der klassischen und hellenistischen Epoche, lange bevor sich diese Entwicklung in der kaiserzeitlichen Epik und der artistischen Theaterrhetorik der Bühnenstars der Zweiten Sophistik nochmals verstärkte. Keinesfalls kann man simplifizierend zwischen dem persuadere als Hauptziel der Rhetoren und andererseits dem bloßen delectare als primärem Ziel der Poeten unterscheiden, wie ja schon ein Blick auf die Gattungen der epideiktischen Rhetorik einerseits und der Lehrgedichte andererseits illustrieren könnte.
Der erste Teil der vorliegenden Sammlung (23-134) thematisiert das Entstehen der Figur des Redners im archaischen und klassischen Griechenland im Spiegel unterschiedlicher poetischer Gattungen. Man vergleiche etwa die Porträts von Heroen als Redner in Homers Ilias (Sylvie Perceau) oder miniaturenhafte Schilderungen von Rednern bereits in der melischen oder komisch-dramatischen Literatur (Michel Briand; Malika Bastin-Hammou). Aus Sicht eines Historikers bietet die nächste Gruppe von Studien, in denen das Verhältnis von Dichtern und Rhetoren sowie die Instrumentalisierung berühmter Dichtungen (Homers, Solons, der Tragiker) in unterschiedlichen Redegattungen der athenischen Klassiker erörtert wird, viele Ansatzpunkte für weitere Diskussionen und Forschungen. Anne de Cremoux untersucht z.B. das Spannungsverhältnis von Dichtung und Rhetorik im Konzept der isokrateischen philosophia politike. Catherine Psilakis stellt exemplarisch den Einfluss einer solonischen Elegie auf die Gesandtschaftsrede des Demosthenes vor. Ihren Höhepunkt erreichte die Instrumentalisierung von auffällig langen Passagen aus berühmten Dichtungen in der athenischen Gerichtsrhetorik aber gewiss erst mit Lykurgs Rede Gegen Leokrates, die daher im Kontext dieser Sammlung über das Wechselspiel zwischen Poetik und Rhetorik unter dem Stichwort der 'civic poetry' mit Recht eine eigene Studie verdient hätte. [2] Die steigende Beliebtheit der Instrumentalisierung poetischer Zitate in Reden unterschiedlicher Gattungen des 4. Jahrhunderts (vor allem auch in Gerichtsreden) ging anscheinend parallel mit einem Trend zur von den damaligen Hörern offenbar erwarteten Verstärkung der 'artistic performance' der Redner in Mimik, Gestik und Stimmführung im Rahmen ihrer hypokrisis. Es folgen mit einem etwas harten chronologischen Sprung unmittelbar zwei Beiträge zur Figur des Poeten als Vorbild und als Gegenbild des Redners in der klassischen lateinischen Rhetorik, insbesondere bei Cicero (Charles Guérin; Marie Ledentu).
Der nächste Teil der Sammlung analysiert Beispiele für antike Autoren, die spielerisch und selbstsicher zwischen ihren oratorischen und poetischen Identitäten wechseln, wie dies bereits von antiken Stilkritikern u.a. für Vergil beobachtet wurde (Philippe Heuzé), aber gibt u.a. auch eindrucksvolle hellenistische Beispiele für "personnages au double langage" (183ff.) aus den Idyllen des Theokrit oder den Mimen des Herondas (Christine Kossaifi; Johann Goeken).
Der letzte Teil der Sammlung bietet thematisch und methodisch sehr unterschiedliche Studien zur Reflexion kaiserzeitlicher Dichter, Stilkritiker und Rhetoren über ihr eigenes Selbstverständnis und ihre auktoriale Rolle als Dichter bzw. als Redner und über ihre mehr spielerisch evozierenden, oder auch eher stilkritisch-systematischen bzw. didaktischen Blicke auf das jeweils spiegelbildlich gegenüberliegende, verwandt-konkurrierende Selbstverständnis als poeta oder orator. Man findet hier u.a. theoretisch interessante Beiträge zu Pseudo-Longins De sublimitate (Sophie Conte), zu Tacitus' Dialogus (Raphaële Cytermann) oder zur Differenzierung zwischen poetischem und rhetorischem Stil im Lehrbuch des Quintilian (Institutio oratoria) am Beispiel seiner Bemerkungen über Lucans stark rhetorisch geprägte Epik (Aline Estèves). Die letzten vier Studien beleuchten die sehr enge Nähe zwischen Poetik und Rhetorik bei berühmten Autoren der Epoche der zweiten Sophistik, insbesondere in den Werken eines Fronto, Aelios Aristeides und Apuleius (Rémy Poignault; Jean-Luc Vix; Géraldine Puccini; Anne-Marie Favreau-Linder).
Die insgesamt lesenswerte Sammlung, die zu den zahlreichen diskutierten berührten Autoren, Werken und aufgezeigten Problemfragen sicherlich weitere Diskussionen unter Spezialisten anregen wird, wird durch eine Bibliografie zu den antiken Autoren, eine allgemeine Bibliografie der Sekundärliteratur, durch indices nominum zu antiken Autoren und nachantiken Personen, kurze bio-bibliografische Notizen über die Autoren, sowie für ganz eilige Leser einen Anhang mit sehr knappen Zusammenfassungen, Schlüsselbegriffen und Stichworten zu allen Beiträgen erschlossen. Ein index locorum fehlt leider.
Anmerkungen:
[1] Vgl. das Inhaltverzeichnis http://www.fabula.org/actualites/h-vial-dir-poetes-et-orateurs-dans-l-antiquite-mises-en-scene-reciproques_57570.php.
[2] Vgl. zur Instrumentalisierung poetischer Passagen in attischen Reden ("civic poetry") und insb. in der Rede Gegen Leokrates des Lykurg aus jüngerer Zeit u.a. Johanna Hanink: Lycurgan Athens and the Making of Classical Tragedy, Cambridge 2014, 25-59; sowie Johannes Engels: Lykurgos' Speech Against Leokrates - Creating Civic Identity and Educating Athenian Citizens, in: Attitudes toward the Past in Antiquity. Creating Identities? (= Stockholm Studies in Classical Archaeology; Bd. 14), hgg. v. Brita Alroth / Charlotte Scheffer, Stockholm 2014, 21-31.
Johannes Engels