Rezension über:

Karin Hellwig: Aby Warburg und Fritz Saxl enträtseln Velázquez. Ein spanisches Intermezzo zum Nachleben der Antike, Berlin: de Gruyter 2015, 169 S., 37 Farbabb., ISBN 978-3-11-042551-2, EUR 39,95
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Rezension von:
Ira Oppermann
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Saskia Jogler
Empfohlene Zitierweise:
Ira Oppermann: Rezension von: Karin Hellwig: Aby Warburg und Fritz Saxl enträtseln Velázquez. Ein spanisches Intermezzo zum Nachleben der Antike, Berlin: de Gruyter 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 4 [15.04.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/04/27945.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Karin Hellwig: Aby Warburg und Fritz Saxl enträtseln Velázquez

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Karin Hellwigs Neuerscheinung kreist um die bahnbrechende Deutung - genauer Deutungsfindung - des um 1656 entstandenen Gemäldes Las Hilanderas (Die Spinnerinnen) von Diego Velázquez. Zusammen mit Las Meninas zählt es aufgrund seiner brillanten Technik, kunsttheoretischen Implikationen und seines Rätselcharakters zu den bedeutendsten Spätwerken des Hofmalers Philipps IV. In diesem Kontext erscheint der Name Aby Warburg zunächst ungewöhnlich, da die spanische Malerei des Siglo de Oro nicht im Blickfeld des Renaissanceforschers und Vorreiters der Bildwissenschaften - er selbst bezeichnete sich 1917 als Bildhistoriker - lag. Für dieses Gebiet interessierte sich vielmehr zunehmend ab 1925 Fritz Saxl, der in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg eng mit Warburg zusammenarbeitete.

Indem Hellwig den jeweiligen Gedankenverlauf beider Forscher bis zu Warburgs Enträtselung der Hintergrundszene auf Las Hilanderas detailliert und klar darstellt, gelingt ihr ein unmittelbarer Einblick in die Methodik der Kunstwissenschaft. Dieses Vorgehen erfordert einige Redundanzen, gewährt dafür trotz der Kürze des Textes eine intensiv-lebendige Leseerfahrung. Einzig stört die wiederholt auftretende Diskrepanz von Daten der Bildunterschriften zu denen im Text.

Hellwig, die bereits über zehn Jahre im Bereich "Spanien und die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg" forscht [1], greift für ihre Darstellung nicht nur auf das Tagebuch dieser Bibliothek zurück [2]: Sie nutzt darüber hinaus die größtenteils unveröffentlichte Warburg-Saxl-Korrespondenz und Saxls Velázquez-Notizen aus dem Warburg Institute Archive, die sie im Anhang als Quelle beziehungsweise Faksimile dokumentiert.

Nach einleitenden Kurzbiografien zu Warburg und Saxl und deren Methodik geht die Autorin im Vierschritt auf die Enträtselung des Bildes zu. Im ersten Teil (17-26) stellt sie die Deutungen der Hilanderas bis 1927 mit Präferenz auf Carl Justi vor, der es als Arbeiter- oder Fabrikstück ansah, der aber auch durch seine innovativen Fragen die Forschung vorantreiben sollte. Außerdem bildet dieser wichtige deutsche Spanienforscher des 19. Jahrhunderts und Autor von Diego Velázquez und sein Jahrhundert (1888) als Warburgs Lehrer für diesen einen frühen Anknüpfungspunkt nach Spanien.

Im zweiten Zwischenschritt (27-32) erörtert Hellwig die thematische Erweiterung der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Bezug auf die spanische Barockmalerei im Jahr 1927 und die anfängliche Motivation beider Forscher für Saxls Spanienreise: Diese lag bei Warburg zunächst in der Forschung zu astrologischen Handschriften und Rubens, während sich Saxl auch auf die Vorbereitung seiner geplanten Vorlesung Spanische Maler des 16. und 17. Jahrhunderts fokussierte. An dieser Stelle hebt Hellwig zu Recht hervor, dass Warburg, der sich durch Saxls beflügelnde Reiseberichte immer mehr für das Spanien des 17. Jahrhunderts erwärmte, vermutlich erst durch dessen Notiz über die "Riesen-Rolle" von Ovids Metamorphosen (105) vollends gewonnen wurde (31). Folglich hing Warburgs Interesse für Velázquez primär an dessen Antikenrezeption, die Warburg schon seit 1924 an Rembrandt und Rubens fesselte, was Hellwig anschließend im dritten Teil darstellt (33-47): Warburg verfolgte das Nachleben der Antikenformen unmittelbar über antike Monumente und mittelbar über Illustrationen antiker Texte, etwa von Antonio Tempesta, dem Antikenszenen-Fundus par excellence. Hellwig führt nun den Faden über Rembrandts Raub der Proserpina (1632) zu Rubens' gleichnamigen frühen Bild (um 1614) zurück - vermittelt durch Pieter Claesz. Soutmans Grafik - und von dort aus über Rubens' Raub der Proserpina (1636/38) schließlich zu dessen Pallas und Arachne-Studie (1636/38) - zwei Arbeiten für Philipp IV. Bedeutend hierbei ist, dass Warburg im Lesesaal seiner Bibliothek Ausstellungen zum "Nachleben der Antike" zeigte. In diesen fortwährend weiterentwickelten "Bilderreihen" präsentierte er auf schwarzen Holztafeln Abbildungen der Kunstwerke. Auf der Tafel "Urworte leidenschaftlicher Gebärdensprache" vereinen sich unter anderem die Reproduktionen von Bildern Rembrandts, Rubens und Tempestas mit Fotografien antiker Skulpturen: So wird durch Pathosformeln die un- und mittelbare Antikenrezeption bei den Barockkünstlern dargestellt. Naheliegend, dass Warburg durch die prägnante Athena-Figur in Rubens' zweitem Proserpina-Bild auf dessen Pallas und Arachne aufmerksam wurde und somit den Hilanderas von der Seite der Ovid-Rezeption nahe kam.

Im vierten Schritt stellt Hellwig Saxls Position vor (49-61), wobei sie die formal-ästhetischen Gesichtspunkte seiner Spanienreise mit Inhalten seiner späteren Vorlesung verknüpft. Die Autorin betont, dass Saxl zu den ersten Kunsthistorikern gehört, die Velázquez aus dem Bannkreis eines genuin spanischen Naturalisten herauslösten und in einen internationalen Kontext stellten. Für die Hilanderas macht Hellwig die Zeichnung Apostel Paulus in Korinth bei Aquila und Priscilla (1585-90) von Joos van Winghe ausfindig, auf die sich Saxl beschreibend bezog, die jedoch in der aktuellen Forschung unberücksichtigt blieb. Johannes Sadelers I. diesbezüglicher Kupferstich (1585-1600) zeigt mit der Raum- und Figurendisposition sowie in der Seitenumkehrung eine plausible Inspirationsquelle für das Velázquez-Bild. Schließlich gelangte Saxl insbesondere über die Beschäftigung mit der Übergabe von Breda zur Überzeugung, dass "Tempesta - Velázquez - Rubens als vollkommene Einheit zu begreifen sind" (59).

Im folgenden Kapitel kommt es beim Nachsinnen fiktiver "Velázquez-Gespräche" zur Entschlüsselung der Hilanderas (63-70), die Hellwig durch die vorangestellten Gedankengänge beider Forscher umsichtig vorbereitet hat: Mit der Pathosformel der Athena bestens vertraut, erkennt Warburg die Hintergrundszene als Pallas und Arachne. Er sieht eine "allegorische Verherrlichung der Webekunst und kein 'Liebermann'". Letzteres mag ein scherzhafter Hieb in Richtung auf Justis "Fabrikstück"-Deutung gewesen sein, zumal jener Warburgs Antikenrezeption für die Renaissance - samt seines Dissertationsthemas - vehement abgelehnt hatte.

Da allerdings weder Saxl noch Warburg diese fundamentale Enträtselung veröffentlichten, blieb die Erstpublikation (1948) über die Arachne-Fabel Diego Angulo Íñiguez vorbehalten (91f.). Somit ist es stimmig, wenn Hellwig am Ende ihrer Untersuchung Saxls El Greco-Studien anfügt (73-84), da diese in der gepfefferten Rezension (1928) von August L. Mayers El Greco-Monografie (1926) mündeten - der einzigen Veröffentlichung seiner Spanienforschung.

Hatte sich Saxl mit dieser Rezension damals unter seinen Kollegen als Spanienforscher Respekt verschafft, so ist es Hellwigs Verdienst, die Velázquez- beziehungsweise El Greco-Forschung mit Saxls Werk vertraut zu machen und seine Ergebnisse teils erneut - etwa die Winghe-Sadeler-Grafik für die Hilanderas - zur Diskussion zu stellen. Darüber hinaus bildet ihre Herausarbeitung unterschiedlicher Methoden und Positionen der einzelnen Forscher einen ebenso fundierten wie anschaulichen Beitrag zur wissenschaftsgeschichtlichen Fachforschung, der last but not least dazu anregt mehr über Warburg und Saxl erfahren zu wollen.


Anmerkungen:

[1] Somit bildet die vorliegende Darstellung eine Summe ihrer diesbezüglichen Forschung, zuerst und zuletzt: Karin Hellwig: Interpretaciones iconográficas de las Hilanderas hasta Aby Warburg y Diego Angulo Íñiguez, in: Boletín del Museo del Prado 22 (2004), Nr. 40, 38-55; und dies.: Das El Greco-Album von Fritz Saxl (1927): Einordnung des extravaganten Malers in eine künstlerische Tradition, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte (75) 2012, 75-92.

[2] Aby Warburg: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl (= Aby Warburg, Gesammelte Schriften, 7. Abteilung; Bd. VII), hgg. v. Karen Michels / Charlotte Schoell-Glass, Berlin 2001.

Ira Oppermann