Ulrike Hamann: Prekäre koloniale Ordnung. Rassistische Konjunkturen im Widerspruch. Deutsches Kolonialregime 1884-1914 (= Postcolonial Studies), Bielefeld: transcript 2015, 382 S., ISBN 978-3-8376-3090-9, EUR 32,99
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Mary Church Terrell und W.E.B. Du Bois waren in vieler Hinsicht ungewöhnliche Persönlichkeiten. Sie stammten beide aus wohlhabenden afro-amerikanischen Elternhäusern. Es gelang ihnen trotz ihrer Hautfarbe und im Falle Terrells trotz ihres Geschlechts, im späten 19. Jahrhundert akademische Abschlüsse an amerikanischen Universitäten zu erwerben. Beide hielten sich um die Jahrhundertwende für einige Zeit in Berlin auf. Nach der Rückkehr in die USA wurde Du Bois zu einem der berühmtesten Vertreter der panafrikanischen Bewegung. Terrell entwickelte sich zu einer führenden Frauen- und Bürgerrechtlerin.
Terrell reiste 1889 nach Berlin. Sie blieb sechs Monate, lernte Sprachen und knüpfte Kontakte zur deutschen Frauenbewegung. 1904 begab sie sich ein zweites Mal nach Berlin, um auf dem Internationalen Frauenkongress eine Rede zu halten. Du Bois studierte 1892 bis 1894 an der Kaiser-Wilhelm-Universität in Berlin, unter anderem bei Gustav Schmoller und Heinrich von Treitschke. Terrell und Du Bois hinterließen Memoiren, Tagebücher und andere Aufzeichnungen, in denen sie über ihre Zeit in Berlin berichteten. Eines der Ziele der vorliegenden, am Frankfurter Exzellenzcluster "Normative Ordnungen" entstandenen Doktorarbeit besteht darin herauszufinden, wie in den Texten dieser beiden afro-amerikanischen Intellektuellen rassistische Denk- und Verhaltensmuster der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs rezipiert wurden.
Dies ist zunächst eine sehr interessante Fragestellung. Sowohl über Terrell als auch über Du Bois liegen Biografien und einige Aufsätze vor, in denen ihre Zeit in Deutschland kursorisch behandelt wird. Man weiß, dass Du Bois Bismarck für die Herstellung eines geeinten deutschen Nationalstaates bewunderte und er in Treitschkes Vorlesungen mit dessen rassistischen und antisemitischen Auffassungen konfrontiert wurde. Eine eingehende Untersuchung der Erfahrungen, die er in Berlin machte und wie diese sein politisches Denken prägten, fehlt jedoch bisher. Das gleiche gilt für Terrell. Eine vergleichende Analyse erschiene gerade aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive vielversprechend.
Ulrike Hamann spricht in ihrer Arbeit eine Reihe wichtiger Aspekte an. Sie legt ihren Textanalysen die Thesen und Kernbegriffe der postkolonialen Kritik zugrunde und arbeitet auf diese Weise Muster der rassistischen Stereotypisierung heraus, über die Terrell und Du Bois in ihren Aufzeichnungen berichteten, so zum Beispiel das "Angestarrtwerden" in der Öffentlichkeit oder auch die "Anthropologisierung" des "Anderen". Sie stellt ferner einige Überlegungen zum Konzept von "Rasse" und "Nation" bei Du Bois an und befasst sich damit wie Du Bois sein Interesse am deutschen Ringen um Freiheit von einem mächtigen Gegner auf den afrikanischen Kampf um Rechte und panafrikanisches Einheitsstreben projizierte. Er begeisterte sich für romantische Dichtung und Musik, in der es um Freiheitsliebe und den Kampf gegen Unterdrückung ging. Den Herderschen "Volksgeist" fand Du Bois in den afro-amerikanischen Spirituals wieder (132-135). Des Weiteren wird untersucht, wie Terrell und Du Bois das Paradigma des "Fortschritts" in ihren Texten einsetzten und wie Du Bois den deutschen Antisemitismus rezipierte. Erwähnt werden seine Kontakte zu Max Weber, und es wird aufgezeigt, wie der Rassismus in den USA und im Deutschen Kaiserreich in den Texten Du Bois und Terrells zueinander in Bezug gesetzt wurde.
So gewinnt man den ein oder anderen aufschlussreichen Einblick in die Vielschichtigkeit der Rezeption der deutschen Geisteswelt bei Du Bois und Terrell. Wenn die Verfasserin sich darauf konzentriert hätte, dann wäre ihr vielleicht eine wichtige Arbeit gelungen. Sie verlässt diesen Untersuchungsgegenstand jedoch allzu schnell, um im zweiten Teil des Buches das große Ganze in den Blick zu nehmen: "Gehört der Rassismus zu Deutschland und wenn ja warum?" ist die Leitfrage, die sie übergreifend verfolgt. Da Hamanns Ansicht nach der Rassismus in der Tat zu Deutschland gehört und zwar wegen des deutschen Kolonialismus, unternimmt sie im zweiten Teil des Buches einen Parforceritt durch die deutschen Kolonien in Afrika, um dort nach rassistischen Denk- und Verhaltensmustern und entsprechendem afrikanischen Widerstand zu suchen. Dass sie in reichem Maße fündig wird, überrascht nun wirklich nicht weiter. Ohne Zweifel spielten aggressive rassistische Denkmuster in der deutschen Kriegführung gegen Nama und Herero eine wichtige Rolle, genauso wie die Stadtplanung von Duala, die deutsche Kolonialverwaltung und die Rechtsprechung von biologischem Rassismus geprägt war. Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Afrika war von rassistischem und sozialdarwinistischem Gedankengut durchsetzt. All dies ist hinlänglich bekannt. Ulrike Hamanns eigentliches Anliegen, Widerstandsformen und Gegenbilder zum deutschen Rassismus in afrikanischen Texten herauszuarbeiten, fällt in diesen Kapiteln zunehmend ihrem Drang zum Opfer, alle Quellen mit den Thesen postkolonialer Vordenker abzugleichen. Deren Werke werden durch das ganze Buch hindurch immer wieder ausführlich beschrieben, oftmals auf Kosten der eigentlichen Quelleninterpretationen.
Die Grundannahme der Verfasserin, dass sich in der kolonialen Phase der deutschen Geschichte eine besonders aggressive Form des Rassismus und Antisemitismus entwickelt hätte, die bis in die heutige Zeit wirksam ist, wurde in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder kontrovers diskutiert. Diese Diskussionen sind der Verfasserin offensichtlich nicht bekannt. Sie schreibt hier in vieler Hinsicht sehr am Forschungsstand vorbei. Tendenziöse Gegenwartsdiagnosen vom "weitgehenden Fehlen eindeutiger Stellungnahmen gegen Rassismus im deutschen Kontext" (347) vermögen in diesem Zusammenhang genauso wenig zu überzeugen wie das Schwadronieren von der "kolonialnationalen Biomacht", vom "Rasse-Dispositiv" und dem "eliminatorischen Element im deutschen Antisemitismus".
Der Arbeit fehlt es insgesamt an Differenziertheit und Tiefenschärfe. Ein Mangel an Sorgfalt zeigt sich nicht nur in der Sprache oder wenn sich Kapitelüberschriften wiederholen (II.4.4 und II.4.6). Auch bei der Quellenkritik hätte man etwas präziser vorgehen können. Wenn die Verfasserin sich auf Memoiren beruft, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, dann muss das Erinnerte nicht unbedingt deckungsgleich mit den Erfahrungen und Empfindungen sein, die in der Zeit in Berlin um 1900 tatsächlich erlebt wurden.
Man muss dieses Buch nicht gelesen haben, wenn man sich mit der deutschen Kolonialgeschichte beschäftigt. Zur Frage, wie bedeutende Repräsentanten der Black Diaspora im Kaiserreich mit der Erfahrung des deutschen Rassismus umgingen, hätte man sich mehr erhofft.
Ulrike Kirchberger