Rezension über:

Jochen Schevel: Bibliothek und Buchbestände des Augustiner-Chorherrenstifts Georgenberg bei Goslar. Ein Überblick über die Entwicklung im Mittelalter bis zur Zerstörung 1527 (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; Bd. 27), Wiesbaden: Harrassowitz 2015, 560 S., 57 Abb., ISBN 978-3-447-10289-6, EUR 98,00
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Rezension von:
Matthias Bley
Landesbibliothek Oldenburg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Bley: Rezension von: Jochen Schevel: Bibliothek und Buchbestände des Augustiner-Chorherrenstifts Georgenberg bei Goslar. Ein Überblick über die Entwicklung im Mittelalter bis zur Zerstörung 1527, Wiesbaden: Harrassowitz 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/27282.html


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Jochen Schevel: Bibliothek und Buchbestände des Augustiner-Chorherrenstifts Georgenberg bei Goslar

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Angesichts des meist fragmentarischen Überlieferungszustands der Chorherrenbibliotheken aus dem Harzvorland bieten die vergleichsweise umfangreich erhaltenen Buchbestände des Stifts Georgenberg bei Goslar einen im regionalen Kontext singulären Materialfundus: Mehr als 80 Handschriften und Drucke aus dem Besitz der dortigen Augustiner-Chorherren sind bis heute nachweisbar. Zudem konzentriert sich das Gros jener Bände in der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek, was ihre Benutzung im Zusammenhang erlaubt. Dennoch wurden die fraglichen Stücke bislang nicht dezidiert ausgewertet. Es erweist sich daher als ebenso naheliegend wie erfreulich, dass im Rahmen des Projektes "Rekonstruktion und Erforschung niedersächsischer Klosterbibliotheken des späten Mittelalters", welches zwischen 2008 und 2013 von der Herzog August Bibliothek gemeinsam mit dem Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung der Georg-August-Universität Göttingen realisiert worden ist [1], das Stift Georgenberg einen der Untersuchungsschwerpunkte bildete.

Mit der Arbeit Jochen Schevels, die 2013 von der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen als Dissertation angenommen wurde, liegen die Georgenberg betreffenden Ergebnisse nun in monographischer Form vor. Anders als Jessica Kreutz, die in ihrer 2014 erschienenen Studie [2] die Buchbestände des Zisterzienserinnenklosters Wöltingerode primär im Kontext spätmittelalterlicher Reformbestrebungen behandelt hat, richtet Schevel das Hauptaugenmerk auf die Bände selbst, deren äußere und innere Merkmale er detailliert bestimmt. Seine Untersuchung gliedert sich in fünf Hauptabschnitte von signifikant unterschiedlichem Umfang, die durch einen ausführlichen Verzeichnisteil sowie tabellarische und graphische Anhänge ergänzt werden.

Sehr kurz gehalten sind die drei einleitenden Kapitel. Ausgehend von einer Einführung in den Stand der Forschungen zu mittelalterlichen Bibliotheken im Allgemeinen und Klosterbibliotheken im Besonderen skizziert Schevel zunächst das konkrete Anliegen seiner Arbeit (9-19). Die Untersuchung der Georgenberger Bände leiste demnach einen Beitrag zur Erforschung der Buchbestände niedersächsischer Stifte und Klöster sowie speziell der Chorherrenbibliotheken in der Region. Aus zwei Gründen komme der Georgenberger Überlieferung spezifische Relevanz zu: Einerseits aufgrund ihres beträchtlichen Umfangs, andererseits da die Zerstörung des Stifts im Juli 1527 eine Zäsur darstellt, welche es Schevel ermöglicht, seine Arbeit "auf die Erforschung eines institutionellen Buchbestand [sic!] zu einem fixen Zeitpunkt zu beschränken"(14). Ein zweites knappes Eingangskapitel widmet sich den Vorarbeiten zur Bibliothek der Augustiner-Chorherren vom Georgenberg (21-24), deren Erkenntnisse Schevel signifikant erweitern kann: Am Ende seiner Arbeit steht ein Katalog von 84 Handschriften und Drucken, die den Chorherren zuzuordnen sind. Seine Einführung schließt Schevel mit einem Überblick zur Geschichte des Georgenbergstifts (25-45), wobei er besonderes Augenmerk auf die Gründung Anfang des 12. Jahrhunderts, die Reform gemäß den Windesheimer Gewohnheiten in den 1490er Jahren und die Zerstörung der Stiftsgebäude durch die Bewohner Goslars 1527 legt.

Auf die einleitenden Kapitel folgt ein als "Bibliothek und Buchbestände des Stifts" überschriebener Großabschnitt (47-403), welcher auch inhaltlich den Schwerpunkt der Studie darstellt. Beginnend mit einer Überlieferungsgeschichte für das Gros der vormals Georgenberger Bücher (47-61) - jene Stücke, die am Beginn des 17. Jahrhunderts in den Besitz der Bibliotheca Juliana übergingen, dann der Universität Helmstedt zugeschlagen wurden und schließlich Anfang des 19. Jahrhunderts nach Wolfenbüttel zurückkehrten - identifiziert Schevel eine Reihe nachträglich eingefügter Kennzeichen: Zu nennen sind hier besonders die Registrierungsvermerke des Wolfenbütteler Bibliothekars Lonicer aus dem frühen 17. Jahrhundert sowie exlibris-Vermerke und Signaturen der Helmstädter Universitätsbibliothek. Eine derart unproblematische Zuordnung ist allerdings nur für Teile der Georgenberger Buchbestände möglich. Um auch jene Bände zu erfassen, die "bisweilen verschlungene [...] Wege hinter sich bringen mussten, bis sie schließlich zu einem überwiegenden Teil ihren jetzigen Platz in der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek fanden" (60), erstellt Schevel einen umfassenden Katalog innerer und äußerer Charakteristika. Darunter fallen Eintragungen Georgenberger Bibliothekare (78-85), Überreste einer lokalen Signaturenordnung (85-122) ebenso wie spezifische Ausstattungsmerkmale: Titelschilder auf dem Vorderdeckel (122-139), Einbände mit den Stempeln einer hauseigenen Einbandwerkstatt (139-160), Besitzvermerke (160-170) und nicht zuletzt Gebrauchsspuren, etwa in Form von Glossen oder Marginalien (170-220). Ausgehend von den äußeren wendet sich Schevel dann den inhaltlichen Merkmalen der Georgenberger Bücher zu: Detailliert identifiziert er die enthaltenen Texte und ordnet selbige thematischen Großgruppen zu (221-269). Wenig verwundern kann der Anteil religiöser Literatur (Bibeltexte und deren Auslegung, Sammlungen von Predigten, Heiligenleben, Schriften der Kirchenväter, -lehrer und -schriftsteller, Liturgica dagegen nur in geringer Zahl), auffälliger sind Schevels Beobachtungen zu Überlieferungsfragen: Während sich kirchliche und weltliche Rechtstexte ausschließlich in Handschriften finden, kommt im Fall der Summenliteratur Druckerzeugnissen ein deutliches Übergewicht zu. Ein eigenes Unterkapitel behandelt die Textverteilung auf Bandebene (269-316), wobei eine klare Differenzierung von inhaltlich heterogenen Komposithandschriften und thematisch stärker geschlossenen Sammelbänden oft unmöglich bleibt. Erst jetzt wendet sich Schevel, wie im Untertitel angekündigt, der zeitlichen Entwicklung des Buchbestands zu (316-396): Die meisten der erhaltenen Stücke entstanden demnach während des 15. und 16. Jahrhunderts. Zwar überwiegen die Drucke, aber auch Handschriften aus dieser Zeit sind zahlreicher überliefert als solche aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert. Die Zusammensetzung der Buchbestände im Jahr 1527 markiert das Ende einer dynamischen Entwicklung, auf die diverse Akteure von inner- wie außerhalb des Stifts eingewirkt haben.

Ein separates Kapitel widmet Schevel der "Entwicklung der Bibliothek seit der Einführung der Reform" (385-396), ohne jedoch über Einzelbefunde hinaus zu einem übergreifenden Ergebnis zu gelangen. Wie ein Nachgedanke wirken die Ausführungen zu fragmentarisch überlieferten Handschriften (396-403), welche sich auf die in London und Karlsruhe bewahrten Reste einer Livius-Handschrift des 10. Jahrhunderts konzentrieren, die ursprünglich Einbände mehrerer Georgenberger Kodizes verstärkten.

Die Stärken seiner Arbeit reflektiert Schevel selbst in deren Fazit: In Form einer Fallstudie konnten für ein ausgewähltes niedersächsisches Augustiner-Chorherrenstift "Charakteristika der Buchbestände im Allgemeinen und der Bibliothek im Besonderen umrissen und nachgezeichnet werden" (408). Der dabei entwickelte Merkmalskatalog erlaubt zukünftig die Klärung offener Provenienzen, ebenso könnten von Schevels Studie weitere Forschungen zu einzelnen Stücken aus Georgenberger Besitz ausgehen. Lediglich ein Fernziel bleibt die abschließend angeregte "gegenüberstellende Untersuchung der Buchbestände verschiedener regionaler Chorherrenstifte" (ebd.). Ein solches Unterfangen wäre im Rahmen einer Einzelstudie wohl kaum realisierbar gewesen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht gerade das gemeinsame Wolfenbüttel-Göttinger Projekt hierfür den idealen Rahmen geboten hätte.


Anmerkungen:

[1] Projektseite der HAB Wolfenbüttel: (http://diglib.hab.de/?link=045; des ZMF Göttingen: (https://www.uni-goettingen.de/de/118251.html (zuletzt aufgerufen am 30. April 2016).

[2] Jessica Kreutz: Die Buchbestände von Wöltingerode: ein Zisterzienserinnenkloster im Kontext der spätmittelalterlichen Reformbewegungen, Wiesbaden 2014.

Matthias Bley