Esther Julia Howell: Von den Besiegten lernen? Die kriegsgeschichtliche Kooperation der U.S. Armee und der ehemaligen Wehrmachtselite 1945-1961 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 90), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, XIII + 384 S., ISBN 978-3-11-041478-3, EUR 54,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Christoph Haack: Die Krieger der Karolinger. Kriegsdienste als Prozesse gemeinschaftlicher Organisation um 800, Berlin: De Gruyter 2020
Florian Reichenberger: Der gedachte Krieg. Vom Wandel der Kriegsbilder in der militärischen Führung der Bundeswehr im Zeitalter des Ost-West-Konflikts, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Robert Rebitsch: Matthias Gallas (1588-1647). Generalleutnant des Kaisers zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Eine militärische Biographie, Münster: Aschendorff 2006
Rafael Wagner: Schwertträger und Gotteskrieger. Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Kriegergesellschaft Alemanniens, Zürich: Chronos Verlag 2019
Günther Kronenbitter / Markus Pöhlmann / Dierk Walter (Hgg.): Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006
Die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg war über lange Zeit und ungeachtet der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt und anderen Institutionen veröffentlichten Forschungen in der öffentlichen Wahrnehmung durch die Memoiren ehemaliger Soldaten dominiert. Diese haben trotz der seit Mitte der 1960er Jahre offenkundigen und in Fachkreisen kaum in Frage gestellten Verstrickungen in die (Kriegs-)Verbrechen des 'Dritten Reiches' die Mär der "Verlorenen Siege" (Erich von Manstein) gepflegt und "Verratene Schlachten" (Hans Friessner) kultiviert oder gar ein "Heer in Fesseln" (Siegfried Westphal) empfunden. Dass diese Selbststilisierungen mit der tatsächlichen Geschichte der Wehrmacht im Nationalsozialismus nicht in Übereinstimmung gebracht werden konnten, haben die Autoren übersehen. Viel mehr noch haben sie die Legende der sauberen Wehrmacht als konstitutives Element auch bei der Gründung der Bundeswehr weiter betrieben.
Erheblichen Vorschub erhielt diese Legenden-Strickerei auch durch die neuen Alliierten der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Streitkräfte und hier vor allem durch die USA und ihr Militär in der Historical Division, der sich die Autorin annähert. Bei den US-Streitkräften hatte die Rußland-Expertise ehemaliger Wehrmachtoffiziere einen Wert an sich, ebenso wie die hoch dekorierten Jagdflieger. Offensichtlich hatten alle deutschen Soldaten im Krieg nur ihren Job gemacht und das in den Augen der neuen Alliierten auch noch besonders gut.
Diese beiden Sichtweisen auf das Handeln und das "Können" der Wehrmacht drückt dabei auch ein besonderes Verständnis von Militärgeschichte aus, das bei beiden Akteuren - der U.S. Army und der ehemaligen Wehrmacht - auf "Kriegsgeschichte" als deskriptive Geschichtsschreibung zur Verstetigung und Überhöhung eigener Leistungen reduziert war. Mit der heutigen Militärgeschichte, wie sie auch für die Bundeswehr und das Militärgeschichtliche Forschungsamt durch seinen ersten Amtschef Hans Meier-Welcker bereits in den 1950er Jahren definiert worden war, hat das rein gar nichts zu tun. (291ff. zum Konflikt um die Übergabe der Studies der Historical Division an die Bundeswehr und das unterschiedliche Verständnis von Geschichte bei Franz Halder und Meier-Welcker)
Ursächlich für solch ein Verständnis der "wahren Kriegsgeschichte" war dabei einerseits die im deutschen Militär bereits seit Moltke dem Älteren und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges betriebene Auswertungen der zurückliegenden Kriege und Schlachten. Die dazu in den Generalstäben verankerten Kriegswissenschaftlichen oder Kriegsgeschichtlichen Abteilungen leisteten diese Arbeit - fernab jeglicher Geschichtswissenschaft und losgelöst von den Standards der Historiker.
In der U.S. Army gab es solche Institute nicht und erst nach dem Ersten Weltkrieg gelang es ansatzweise, die eigene Kriegsgeschichte zum Gegenstand selbstkritischer Analysen zu machen. Dabei war vor allem die Besetzung der leitenden Positionen unter oftmals höheren Offizieren problematisch. Von kontinuierlicher Arbeit konnte deswegen lange Zeit nicht die Rede sein. (54ff. Leider vernachlässigt die Autorin Markus Pöhlmanns hervorragende Arbeit zur militärischen Geschichtspolitik [1].)
Im Zuge des alliierten Vormarschs in Europa gelang es der U.S. Army jedoch, einen Nukleus zu schaffen, der die eigenen militärischen Operationen auswertete und dazu auch kriegsgefangene deutsche Offiziere befragte. Nach dem Ende des Krieges nahmen diese Befragungen systematischen Charakter und größere Ausmaße an, vor allem weil in der US-amerikanischen Besatzungszone in wenigen Lagern die Generale und Generalstabsoffiziere gehäuft untergebracht waren. (72, z.B. Mondorf, Allendorf, Neustadt/Hessen) Die dabei zu überbrückenden Meinungsunterschiede und Konflikte innerhalb des US-Militärs sind dabei nur bedingt spannend und weiterführend. (67 bzw. 83 zu verschiedenen Akteuren)
Viel wichtiger ist der Umgang der Besatzer mit ihren gefangenen Informanten. Das vordergründige Interesse der US-Seite an militärischen Erfahrungen und Expertisen nutzen die deutschen Gefangenen auch zur Selbstrechtfertigung: sie schrieben oder konstituierten gar die Rolle der "unpolitischen Wehrmacht" (258-262) und sorgten so für die in der deutschen Öffentlichkeit empfundene scharfe Abgrenzung zwischen "anständiger Wehrmacht" und den Mörderhorden der SS.
Herausragende Bedeutung kam dabei der Personalauswahl zu: unter der Führung des ehemaligen Chef des Generalstabs des Heeres, Franz Halder, wurden Offiziere über kleine Netzwerke und vor allem die Zugehörigkeit zum Generalstab ausgewählt. Hier schein die persönliche Vertrautheit eines der wesentlichen Kriterien gewesen zu sein - leider geht die Autorin auf die Halder'sche Personalauswahl kaum ein. (46-51) Dabei sticht hervor, dass die U.S. Army von den Deutschen lernen wollte, was sie selber nicht konnte oder wusste (z.B. Krieg gegen die Rote Armee), da sie im Gegensatz zu den deutschen Offizieren eben nicht auf vergleichbare Truppenerfahrung zurückgreifen konnte. - Im Gegensatz zu dieser Bewertung der Autorin ist festzuhalten, dass ein Großteil der deutschen Offiziere eben in (auch höheren) Stäben und Kommandos, weniger aber in der (Front-)Truppe seine Erfahrungen gesammelt hatte.
Esther Julia Howell hat ein spannendes Buch geschrieben, das die Wehrmachtgenerale weiter dekonstruiert und teilweise desavouiert. Sie strickten in den Studien nicht nur an eigenen Legenden, sondern boten sich dem Sieger - sicherlich nachvollziehbar begründet durch die eigene Notlage - in selbstloser und teils selbstverleugnender Weise an. Die "Privilegierte Behandlung" als Mitglied der Historical Division stellte insofern einen "Arbeitsanreiz" für die ehemaligen deutschen Soldaten dar, der für sie von existentieller Bedeutung war. (92-96) Darüber hinaus ergab sich eine weitgehende Kooperationsbereitschaft der deutschen Kriegsgefangenen, die auch sehr entgegenkommend entlassen und weiter beschäftigt wurden, selbst wenn sie in alliierten Kriegsverbrechergefängnissen einsaßen! (181-182 zu den Rahmenbedingungen der Arbeit; 180-191 zur Kontaktpflege in der Haft und nach der Entlassung)
Dass die Kooperation mit den US-amerikanischen Kriegsgegnern auch juristische Vorteile hatte, belegt der Umgang der U.S. Army mit dem Entnazifizierungsverfahren von Franz Halder: Er hätte als Verantwortlicher für zahlreiche Eroberungsfeldzüge und seine Anstiftung zu Kriegsverbrechen - z.B. seine Mitwirkung an den verschiedenen verbrecherischen Befehlen für den Feldzug "Barbarossa" - beim Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg auf der Anklagebank sitzen müssen. Stattdessen stilisierte er sich infolge seiner KZ-Haft nach dem 20. Juli 1944 als Opfer des Nationalsozialismus. Bei der Vorbereitung des Entnazifizierungsverfahrens reihte der bayerische Kläger Halder 1947/48 in die Gruppe der "Hauptschuldigen" ein. Das mündliche Verfahren führte trotzdem zur Einstufung als "überhaupt nicht" belastet - seine Arbeit konnte weitergehen. Ein Wiederaufnahmeverfahren auf Intervention der Staatsanwaltschaft verschleppte die US-amerikanische Führung der Historical Division bis ins Jahr 1950. Die Entnazifizierung war damals abgeschlossen und Halder folglich nicht belastet. (176-178)
Kleine Fehler im empfehlenswerten Buch sind verzeihbar: es gibt im Militär wohl eher "operative Erfahrungen" als "operationelle" (81) und Hans Röttiger war nicht der erste Generalinspekteur der Bundeswehr (295). Es wäre dennoch wichtig gewesen, die Studie nicht auf die Zusammenarbeit der U.S. Army mit einigen Generalen in Halders Umfeld zu verengen. Der Ausblick auf Luftwaffe und Marine hätte offenbart, wie flächendeckend hier Netzwerke entstehen und welche der ehemaligen Soldaten auch in der künftigen Bundeswehr Karriere machen oder in militärischen Netzwerken und Vereinen weiterwirken konnten, zum Wohle des Andenkens an die Wehrmacht. Und eines hätte die Autorin herausstellen müssen: Zahlreiche Studien der Historical Division (323-326 listet nur einen Bruchteil der Studies auf) entstanden offenkundig im Nachgang zu den Memoiren bekannterer ehemaliger Generale. Wer hat da von wem abgeschrieben?
Anmerkung:
[1] Markus Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung, 1914-1956 (= Krieg in der Geschichte, Bd. 12), Paderborn 2002.
Heiner Möllers