Rezension über:

Sven Keller (Hg.): Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin. Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939-1946 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 111), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, VI + 259 S., ISBN 978-3-11-040485-2, EUR 24,95
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Rezension von:
Susanne zur Nieden
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Susanne zur Nieden: Rezension von: Sven Keller (Hg.): Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin. Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939-1946, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/28199.html


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Sven Keller (Hg.): Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin

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Am 22. August 1939 beginnt die 13-jährige Münchenerin Wolfhilde von König ihr Tagebuch. Einige Zeit später - nach Kriegsbeginn am 1. September des Jahres - fügt sie ein in Schönschrift gestaltetes Titelblatt "Kriegstagebuch 1939" hinzu. Als Motto wählt sie ein Zitat Adolf Hitlers: "Was immer auch kommen mag, das Deutsche Volk, so wie es heute steht, wird niemand mehr zerschlagen und niemand mehr zerreißen können!" (29) Sie ergänzt ihre Aufzeichnungen, vor allem in den ersten Kriegsjahren mit Auszügen aus Reden nationalsozialistischer Führer und Zeitungsartikeln vom Vormarsch der deutschen Wehrmacht, nationalsozialistischen Festveranstaltungen und bebilderten Zeitungsberichten ihrer Einsätze als BDM-Mitglied. Sie führt ihr Tagebuch in Abständen von einigen Tagen bis zum Kriegsende im Mai 1945 und setzt es nach Kriegsende weitaus sporadischer noch bis zum November 1946 fort.

Wolfhilde war ein Kind als die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland ergriffen. 1936, mit 10 Jahren, wird sie Mitglied des Bund deutscher Mädchen, mit 14 Jahren steigt sie zur Jungmädelführerin und bald darauf zur JM-Scharführerin auf. Sie entschließt sich dann zu einer Ausbildung zum Gesundheitsdienstmädchen und hat seit Sommer 1943 die Funktion einer Bann-Gesundheitsdienstreferentin inne. Schon zu diesem Zeitpunkt steht ihr Plan, Medizin zu studieren, fest. Bei der Entnazifizierung fällt die junge Frau unter die Jugendamnestie und kann schon bald ihr Studium beginnen. Sie wird Ärztin und bleibt unverheiratet.

Da das Elternhaus zumindest aktiv nichts dagegensetzt, ist das junge Mädchen umgeben von der geschlossenen Sinnwelt des Nationalsozialismus. Immer wieder greift sie im Tagebuch auf nationalsozialistische Phrasen zurück. Die Heranwachsende hat ein klares Schreibkonzept: Eine Chronik des Siegeszugs der Nationalsozialisten will sie schreiben. Private Sorgen haben daher in ihren Aufzeichnungen so gut wie keinen Raum. Aus ihrem Alltag berichtet die Verfasserin allenfalls von kulturellen Unternehmungen und Wanderungen. Ihr Schreibkonzept wird jedoch zunehmend in Frage gestellt, je deutlicher sich die militärische Niederlage abzeichnet.

Wie in vielen zeitgenössischen Tagebüchern von Frauen und Mädchen in Deutschland tritt ab Ende 1942 der Alltag im Bombenkrieg und somit die Heimat, die zur Front geworden ist, stärker in den Mittelpunkt. Wie bei vielen Tagebuchautorinnen münden die militärisch aussichtslose Lage und die bedrohlichen Bombardements nicht im Zweifel an einen Sieg Deutschlands. Am 30. März 1945 notiert sie in ihrem Tagebuch: "Der Bombenterror geht weiter. Ich versuche weiter zu glauben an unseren Sieg, denn wenn wir verlieren, geben wir den Sinn des Lebens auf." (207)

Hitlers Reden und Frontbesuche werden jedoch weiterhin im Tagebuch festgehalten, der Rekurs auf Hitler zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufzeichnungen. Noch am 20. April 1945 zitiert sie - anlässlich des Geburtstags Adolf Hitlers aus einer Rede des Propagandaministers: "Ich stimme mit ganzem Herzen den Worten von Dr. Goebbels bei (...) Möge er immer bleiben, was er uns ist und immer war: unser Hitler!" Am 29. April 1945, einen Tag vor Hitlers Selbstmord, liest man im Tagebuch: "Ich möchte wissen, wie es um unseren Führer steht." Sein Suizid, von dem die eifrige Rundfunkhörerin zweifellos schon Anfang Mai erfuhr, wird im Tagebuch mit keinem Wort erwähnt. Auch in der weiteren Folge der Aufzeichnungen taucht der zuvor so oft zitierte "Führer" kein weiteres Mal mehr auf. Das Objekt, auf das so viel Gefühl und Aufmerksamkeit zentrierte, scheint plötzlich nicht mehr vorhanden zu sein. Ostern 1946 schreibt sie im Rückblick: Wenn ich an das letzte Jahr denke, so kommt einem alles wie ein böser Spuk vor, das früher und das jetzt. Man will nicht nachdenken (...)." (194)

Die militärische Niederlage Deutschlands und das Ende des Nationalsozialismus erlebt Wolfhilde von König als einschneidenden Sinnverlust: "Sollen denn alle Opfer umsonst gewesen sein? Nein, das kann ich nicht glauben." Schreibt sie zu einem Zeitpunkt als München von den amerikanischen Truppen besetzt wird. Fast wortgleiche Formulierungen finden sich in vielen deutschen Tagebüchern zum Zeitpunkt der Kapitulation. "(...) die Arbeit [im Krankenhaus] freut einen nicht, weil man sich frägt, ob sie noch einen Sinn hat.", notiert sie am 5. Mai 1945. Wenig später am 5. Juni 1945 stellt sie die Arbeit dort ganz ein. Die Amerikaner haben das Krankenhaus für Überlebende des KZ Dachaus und Displaced Persons requiriert: "Nun ist Schwabing Ausländerkrankenhaus und ich gehe nicht mehr hin. Jüdinnen und Ukrainerinnen zu pflegen, habe ich wirklich keine Lust." Deutlich wird der vollständige Mangel an Empathie den Verfolgten gegenüber sowie rassistisches Ressentiment. Wolfhilde von König hatte die Messlatte, was sie sich an Disziplin, Verzicht auf Freizeit und Vergnügen im "Dienst am Volk" abverlangte, stets sehr hoch gehängt. Von dieser Moral sind jedoch im nationalsozialistischen Wertehorizont, diejenigen, die als "volksfremd" galten, ausgeschlossen.

Seit dem Sommer 1945 werden ihre Einträge seltener, die alltägliche Not und die Sorge um Vater und Bruder, über deren Verbleib es zunächst keine Nachricht gibt, dominieren die Aufzeichnungen. Zuweilen greift sie nur einmal im Monat zur Feder. "Eintönig" sei das Leben geworden, klagt sie im Juni 1945 und berichtet von den Entbehrungen des Nachkriegsalltags. Der letzte Eintrag vom 8. November 1946, ist der Tag ihres 21. Geburtstags. Wolfhilde hat sich für einen Studienplatz Medizin beworben und wartet darauf, dass die Universität wieder beginnt. Mit Studienbeginn und der Volljährigkeit kommt für die junge Frau der Krieg und damit das Kriegstagebuch zu einem Ende.

2009 wurde dem Institut für Zeitgeschichte dieses Tagebuch der jungen Münchnerin aus den Jahren 1939 bis 1946 aus einem Familiennachlass zur wissenschaftlichen Prüfung angeboten. Die Aufzeichnungen wurden im Rahmen des Projektes "Das Private im Nationalsozialismus" transkribiert. In der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ist das Tagebuch 2015 mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat, Literatur- und Namensverzeichnis, sowie einem Glossar und einer sehr informierten Einleitung des Herausgebers Sven Keller publiziert worden.

Das so aufgearbeitete und kommentierte Diarium ist als historische Quelle in mehrerlei aufschlussreich und besonders. Ein Mädchentagebuch, das kontinuierlich über die Kriegsjahre geführt wurde, ist durchaus ungewöhnlich. Bei Frauen und Mädchen wird der Krieg in der Regel erst in der letzten Phase - Ende 1942 zum Gegenstand der Tagebücher. Auch den Titel "Kriegstagebuch", den die damals 13-jährige Wolfhilde von König wählte, kennt man sonst nur von männlichen Verfassern.

Tagebücher dieser Zeit, die die Autoren und Autorinnen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs publizierten, wurden nicht selten überarbeitet, wobei wie - z.B. bei den Aufzeichnungen Ursula von Kardorff (1992) - politisch kompromittierende Passagen entschärft oder gestrichen wurden. [1] Sorgfältig edierte Originaltagebücher haben daher als historische Quelle gerade für die NS-Zeit eine besondere Bedeutung.

Die Journalistin Margret Boveri sprach im Hinblick auf ihre Aufzeichnungen "Tage des Überlebens - Berlin 1945" von einem "Zustand belagerter Phantasie". [2] Man habe das Bevorstehen der Niederlage erkannt. "Trotzdem lebte man als sei das Gegebene von Dauer." [3] Sie zitiert den britischen Historiker A.J.P. Taylor, der in einem Kommentar im Observer kurz nach Kriegsende schrieb: "Ein großes Geheimnis bleibt in Bezug auf das Ende des Zweiten Weltkrieges bestehen. Wie vermochten die Deutschen während der Niederlage mit so unentwegter Standhaftigkeit weiterzumachen? Die Deutschen selbst können sich nicht mehr erinnern, und deshalb wird die Antwort nie zu finden sein." [4] Aufzeichnungen wie das Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin können mit dazu beitragen, jenes "Geheimnis" ein wenig zu lüften, das der Verfasserin selber im Nachhinein unerklärlich wie "Spuk" blieb.


Anmerkungen:

[1] Ursula von Kardorff: Berliner Aufzeichnungen 1942-1945. Unter der Verwendung der Originaltagebücher neu herausgegeben und kommentiert von Peter Hartl, München 1992.

[2] Margret Boveri: Tage des Überlebens. Berlin 1945, München 1985, 30.

[3] Ebd., 8.

[4] Zitiert nach Boveri (Anm. 2), 10 und 6.

Susanne zur Nieden