Rezension über:

Rebecca Pinner: The Cult of St Edmund in Medieval East Anglia, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2015, XI + 276 S., 4 Farb-, 8 s/w-Abb., ISBN 978-1-78327-035-4, GBP 60,00
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Rezension von:
Stephan Bruhn
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Bruhn: Rezension von: Rebecca Pinner: The Cult of St Edmund in Medieval East Anglia, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/28275.html


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Rebecca Pinner: The Cult of St Edmund in Medieval East Anglia

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Edmund der Märtyrer, König von East Anglia (ca. 855-869), gehört zu den weniger bekannten englischen Heiligen. Dies mag sicherlich mit der fragmentarischen Überlieferung zur historischen Person des Herrschers sowie dem durch die Reformation bedingten generellen Bruch in der englischen Heiligenverehrung zusammenhängen, steht aber in einem starken Gegensatz zur Bedeutung und Rezeption Edmunds im Mittelalter selbst. So wurde die Legende um den angelsächsischen Königsheiligen stetig durch neue hagiographische Texte erweitert und aktualisiert. Seine auf den Schrein in Bury St Edmunds fokussierte Verehrung dürfte bis zum Einsetzen des Becket-Kultes gar die bedeutendste Pilgerstätte Englands gewesen sein.

Umso erstaunlicher erscheint es da, dass eine systematische Aufarbeitung der mittelalterlichen Kultentwicklung bisher fehlte. Zwar haben sich immer wieder Studien insbesondere mit der Historizität der Edmund-Legende befasst sowie einzelne Facetten des Kultes, wie etwa die politische Instrumentalisierung des Heiligen, beleuchtet.[1] Eine umfassende Analyse der vielgestaltigen kommunikativen Nutzung und Verehrung Edmunds ist aber - unbeschadet erster Ansätze in jüngerer Zeit [2] - aus diesen Einzelbeobachtungen nicht erwachsen. Diesem Forschungsdesiderat widmet sich die hier zu besprechende Monographie von Rebecca Pinner, indem sie die Kultentwicklung um den König von den ersten Zeugnissen seiner Verehrung im 10. Jahrhundert bis hin zur Auflösung Burys 1539 in East Anglia untersucht. Die Autorin rekurriert auf schriftliche Zeugnisse und deren sozio-kulturelle Entstehungs- und Rezeptionskontexte und geht von einem weiten Hagiographiebegriff aus, der auch andere mediale Repräsentationen Edmunds in Form von Pilgerzeichen, baulichen bzw. architektonischen Zeugnissen sowie Bildnissen allgemein berücksichtigt.

Die Studie gliedert sich in drei übergeordnete thematische Abschnitte, deren Genese in einer vorangestellten Einleitung unter konkreter Berücksichtigung der leitenden Erkenntnisinteressen und methodischen Herangehensweise konzis hergeleitet wird. Pinner gelingt es dabei, den bestehenden Forschungsstand pointiert zusammenzufassen und sich von allzu positivistischen Ansätzen abzugrenzen, indem sie sich bewusst nicht vordergründig mit den bisher dominierenden Fragen um Historizität und Instrumentalisierung befassen will. Vielmehr gedenkt sie, die Mehrschichtigkeit der um den Heiligen zirkulierenden Vorstellungen und deren kontextgebundene Aussagepotenziale in den Blick zu nehmen. In ihrer überzeugenden Ausgangsthese stellt die Autorin folgerichtig die Ambiguität der Heiligenfigur heraus, in welcher sie mit einen entscheidenden Faktor für die erfolgreiche Behauptung des Kultes im Mittelalter sieht. Gerade die Vielschichtigkeit des Edmundbildes, in dem vor allem seine Rollen als Märtyrer, König und "Jungfrau" von Bedeutung sind, ermöglichte je nach kommunikativem Anliegen und argumentativem Kontext eine andere Akzentuierung und machte die Heiligenfigur so anschlussfähig für unterschiedliche Nutzungen, die sich nicht allein auf politisch-herrschaftliche Diskurse reduzieren lassen.

Doch so gründlich die Auseinandersetzung mit der Forschung zum Edmundskult auch erfolgt, so knapp fallen die Bemerkungen zu den übergeordneten Themenstellungen der Arbeit aus. Die kontinentaleuropäische Hagiographie- und Kultforschung nimmt Pinner nur in Ansätzen und allein dort wahr, wo sie in englischer Sprache vorliegt. Dies führt bei aller regionalen Beschränkung der Untersuchung zu teilweise verkürzenden Perspektiven. So ist ihre an Pierre Delooz angelehnte Betonung des Konstruktcharakters von Heiligen, die als vielgestaltig nutzbare Projektionsfläche für unterschiedliche Gemeinschaften fungieren, zwar mit Blick auf die englische Heiligenforschung durchaus noch nicht erschöpfend angewandt worden. Mit Blick auf die kontinentale Hagiographieforschung handelt es sich bei dieser kulturgeschichtlich inspirierten Methodik aber um einen fest etablierten Untersuchungsansatz, sodass Pinner in diesem Kontext auch auf andere, aktuellere und umfassendere Studien jenseits des Aufsatzes von Delooz aus dem Jahre 1983 hätte verweisen können. Auch die fallübergreifenden Studien von Erich Hoffmann und Robert Folz zum Typus des Königsheiligen werden von Pinner nicht konsultiert.

Methodisch problematisch erscheinen die Überlegungen der Autorin zur sozio-kulturellen Verortung der unterschiedlichen hagiographischen Artikulationen. So relativiert Pinner zwar zunächst vollkommen zu Recht binär verfahrende Klassifikationen von Erscheinungsformen des Kultes, die auf Gegensätzen wie "offiziell/inoffiziell", "klerikal/laikal" oder "gebildet/ungebildet" (27) beruhen. Diese ersetzt sie aber durch die wenig aussagekräftigen Kategorien "home" und "away" (28), die zwar bewusst nicht wertend zu verstehen sind, gleichwohl aber eine prinzipielle Unterscheidbarkeit zwischen Peripherie und Zentrum implizieren, welche anhand der Quellen zumeist nur schwer zu ermitteln ist.

Die sich an die Einleitung anschließenden inhaltlich definierten Sektionen lassen sich als thematischer Dreischritt verstehen, indem zunächst die hagiographische Traditionsbildung, dann die Ausgestaltung des Kultes in Bury selbst und schließlich die produktive Aneignung Edmunds außerhalb Burys untersucht werden. Die Auseinandersetzung mit dem hagiographischen Schriftgut erfolgt grundsätzlich chronologisch, setzt vereinzelt aber auch systematische Akzente, indem etwa die Wunderberichte sowohl als eigenständiger Zweig der Traditionsbildung wie auch in ihren Bezügen zur Vita des Heiligen untersucht werden. Eine Analyse der Bilderzyklen in den Handschriften, in denen Pinner zu Recht eigenständige narrative Entwürfe der Legende sieht, sowie vereinzelte kodikologische Befunde ergänzen dabei die Untersuchung der Textzeugnisse in sinnvoller Weise. Als problematisch erweist sich allerdings die äußerst geringe Bebilderung des Abschnittes, welche die Aussagekraft der Befunde Pinners - trotz anschaulicher Erläuterung der Darstellungen - einschränkt, zumal Interpretation und Beschreibung nicht immer sauber voneinander getrennt werden. Insgesamt betrachtet entsteht der Eindruck einer relativ willkürlichen Auswahl von Abbildungen und Reproduktionen, die somit entgegen der Erkenntnisinteressen der Arbeit eher eine illustrierende denn eine belegende Funktion bekommen. Mit Blick auf die Ansätze einer statistischen Auswertung der Wunderberichte in Kapitel zwei verwundert es zudem, dass Pinner der Studie keine entsprechenden Aufstellungen beigefügt hat, um ihre quantifizierenden Aussagen zu untermauern. Dies überrascht umso mehr, als dem dritten Abschnitt gleich drei Aufstellungen beigefügt sind (174, 195), um die dort getroffenen Beobachtungen anschaulich zu systematisieren.

Die Stärken des Abschnittes zur hagiographischen Traditionsbildung liegen deutlich in Pinners Abhandlung zur spätmittelalterlichen Anreicherung der Legende, wobei insbesondere auf die mittelenglische Dichtung John Lydgates zu verweisen ist, mit deren Kontexten und Überlieferung sich die Autorin bestens auskennt. Die Auseinandersetzung mit der frühen Hagiographie fällt demgegenüber deutlich ab, wie etwa die Ungenauigkeiten Pinners in Bezug auf die Passio Sancti Eadmundi Abbos von Fleury verdeutlichen. So bezieht sich Abbos Verweis auf die autoritative Kraft des Alters im Prolog, welche durch eine nix capitis angezeigt wird, nicht auf den armiger, sondern auf Dunstan von Canterbury, der als Zeuge für Edmunds Unverweslichkeit angeführt wird (35/36). Edmunds Fesselung an einen Baum ist nicht als Anspielung auf das Kreuz zu verstehen, sondern symbolisiert vielmehr - wie aus dem im Folgenden von Pinner selbst angeführten Zitat deutlich ersichtlich wird - die Geißelsäule (41). Die im Widmungsbrief mehrfach genannten fratres bezeichnen wiederum nicht allein die Mönche Burys, sondern beziehen sich an einer Stelle auf den Zuhörerkreis Dunstans (44).

Der zweite thematische Abschnitt widmet sich mit der multimedialen Ausgestaltung des Kultes in Bury St. Edmunds einem quellentechnisch nur schwer zu fassenden Phänomen, ist das Kloster nach seiner Auflösung 1539 doch weitestgehend zerstört worden. Pinner trägt dieser Herausforderung durchaus Rechnung und versucht, den Mangel an baulichen und dinglichen Zeugnissen durch eine reflektierte Untersuchung von schriftlich vermittelten Eindrücken zu kompensieren. Auch hier erweisen sich allerdings einige Ansätze der Autorin als problematisch. So wird - bei allem artikulierten Problembewusstsein - immer wieder versucht, die visuellen, klanglichen und räumlichen Erfahrungen, die die Pilger vor Ort machten, zu rekonstruieren. Das multimediale Arrangement um den Schrein wird dabei notwendigerweise mit den Wirkungen, welche dieses auf die Individuen entfaltete, gleichgesetzt, was methodisch fragwürdig erscheint. Die generelle Problematik der Vermittlung von sinnlich Erfahrbarem durch schriftliche Quellen in Form selektiver und subjektiver Eindrücke wird zudem kaum näher berücksichtigt, sodass viele Beobachtungen letztlich nicht über das Formulieren von plausiblen Hypothesen hinausgehen.

Der dritte Abschnitt widmet sich schließlich den unterschiedlichen Adaptionen und Aneignungen des Edmundkultes in East Anglia jenseits des Kultzentrums in Bury, wobei neben schriftlichen Quellen auch überlieferte Sachzeugnisse unterschiedlichster Art berücksichtigt werden. Der Abschnitt besticht dabei durch die Fülle des zusammengetragenen Materials, kann Pinner doch vor allem anhand der Edmundsdarstellungen aus den Kirchen Norfolks und Suffolks die vielgestaltigen Kontexte und Erscheinungsformen aufzeigen, in denen der Heilige rezipiert worden ist. Angesichts der heterogenen Befunde fällt das Vorgehen in diesem Teil der Arbeit allerdings weniger stringent als zuvor aus, zumal einige der vorgebrachten Interpretationen wiederum etwas zu spekulativ ausfallen.

Abgeschlossen wird die Studie durch ein prägnantes Fazit, welches die einzelnen Untersuchungspunkte unter konkreter Berücksichtigung der in der Einleitung aufgeworfenen Fragestellungen zusammenführt. Neben einer etwas fragwürdigen Einschätzung des Verhältnisses von Kultzentrum und Region innerhalb der hagiographischen Traditionsbildung erscheint hierbei vor allem die viel zu starke Akzentuierung der vermeintlichen "Bedeutung" einzelner Individuen - insbesondere der Autoren - für die Kultentwicklung problematisch. So gewinnbringend es auch ist, sich von abstrakten Strukturbegriffen zu lösen, mit welchen Heiligenkulte in der Forschung allzu oft bedacht werden, und stattdessen die konkreten Akteure in den Blick zu nehmen, wird hier doch unweigerlich das Bild einer "Geschichte der großen Männer" evoziert.

Der Band wird schließlich durch einen knappen Index, einem nach Handschriften, gedruckten Quellen und Forschungsliteratur geordneten Literaturverzeichnis sowie einer Karte und zwei Anhängen, die die Kultentwicklung räumlich, zeitlich und textlich ordnen und dem Leser somit weitere Orientierungspunkte bieten, beschlossen.

Insgesamt betrachtet hinterlässt die Arbeit Pinners einen zwiespältigen Eindruck, fallen doch einerseits die Ungenauigkeiten insbesondere bei der Beleuchtung der frühen Kultgeschichte und die teils im Bereich des Spekulativen verbleibenden Thesen zu den materiellen Dimensionen der Verehrungspraxis negativ auf. Andererseits vermögen einzelne Beobachtungen und vor allem der zusammengetragene Materialreichtum, der ganz unterschiedliche Akzentuierungen des Heiligen Edmund erkennen lässt, zu überzeugen. Vor allem die konsequent vollzogene Erweiterung der Untersuchungsperspektive ist es, welche die Studie Pinners trotz der angeführten monenda zu einer hilfreichen Arbeit für die zukünftige Edmundsforschung macht, wenngleich im Einzelfall auch kritisch mit den Befunden umzugehen ist.


Anmerkungen:

[1] Vgl. etwa: Dorothy Whitelock: Fact and Fiction in the Legend of St Edmund, in: Proceedings of the Suffolk Institute of Archeology 31 (1967/1969), 217-233; Susan Ridyard: The Royal Saints of Anglo-Saxon England. A Study of West Saxon and East Anglian Cults (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought; vol. 4,9), Cambridge u.a. 1988, bes. 211-233.

[2] Vgl. vor allem: Anthony Bale (ed.): St Edmund, King and Martyr. Changing Images of a Medieval Saint, Woodbridge u.a. 2009.

Stephan Bruhn