Josiah Ober: The Rise and Fall of Classical Greece, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2015, XXIX + 416 S., ISBN 978-0-691-14091-9, USD 35,00
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Schon der Titel des Buches provoziert, beschwört er doch die Erwartung einer epischen Erzählung von Gibbon'schem Format, in der die antiken Griechen - ungeachtet der vielfältigen, zumal orientalischen Einflüsse, die herunterzubeten wir uns inzwischen angewöhnt haben - als solitäre Vorbilder einer Idee des Westens auf einem hohen Podest vor sich hin glänzen, unberührt von Dekonstruktivismus, postcolonial bias und globalgeschichtlicher Verzwergung. [1] Doch Josiah Ober wärmt weder das klassizistische athen- und kulturzentrierte Standardnarrativ auf noch brandmarkt er die Hellenen als fatale Vorbilder für neuzeitliche Kolonialisten, Sklavenhalter oder Konstrukteure binärer Weltbilder. Er stellt sie vielmehr vor als höchst erfolgreiche Gestalter eines für vormoderne Verhältnisse bemerkenswert stetigen und sichtbaren Wachstums auf den Feldern Ökonomie, Politik und Kultur.
Die Studie steht im Zusammenhang mit dem an der Stanford-University betriebenen Projekt einer "comparative analysis of [...] historical cases of political and economic exceptionalism" (XV); am Ende dieser Bemühungen könnte die nicht zuletzt von Ian Morris in seinen 'Big History'-Entwürfen vorab und von hoher Warte ausgeführte Suche nach den Gründen für Erfolg und Misserfolg in der Geschichte [2] auf eine sehr viel breitere Grundlage gestellt sein. Das Forschungsumfeld hat dem Buch seinen Stempel aufgeprägt: Ober macht vor allem die Neue Institutionenökonomie fruchtbar, daneben unter anderem spieltheoretische Ansätze, aber auch Modellbildungen aus der Sozialanthropologie und der Soziobiologie - Aristoteles' Überlegungen zu Bienen- und Ameisen'staaten' kommen auf diese Weise zu hohen Ehren. Grundkenntnisse in sozialwissenschaftlichen Methoden, Statistik sowie eine gewisse Akzeptanz von quantifizierenden Modellbildungen und des Jargons der Informationstechnologie sind bei der Lektüre hilfreich. Um jedoch einem naheliegenden Einwand gleich zu begegnen: Auch wenn in dem Buch eher selten antike Quellen zitiert oder gar hermeneutisch ausgelegt werden - die empirische Grundlage ist solide. Ober hat seine Mitarbeiter aus dem reichen Material des "Inventory of Archaic and Classical Poleis" des Copenhagen Polis Centre (Oxford 2004) statistisch verwertbare und für Klassifikationen taugliche Datensätze erarbeiten lassen; das Material ist auf der Webseite http://polis.stanford.edu zugänglich und wird im Buch nach allen Regeln der Kunst ausgewertet. Wie belastbar die sehr viel weitergespannten Entwicklungsgrafen sind, z.B. fig. 4.5: Population and consumption estimates, core Greece, 1300 BCE-1900 CE, müssen Spezialisten diskutieren. Ober täuscht jedoch nie über unsichere Grundlagen hinweg und gibt immer wieder Berechnungen mit einem Min-Max-Korridor an.
So entsteht ein völlig neues Bild des antiken Hellas: nicht mehr eine wirtschaftlich rückständig-gleichgültige Ökonomie von vielen darbenden Subsistenzbauern und wenigen Sklavenhaltern mit leisure class-Mentalität, die sich erstaunlicherweise gemeinsam den Luxus von Demokratie und Kunst leisten, sondern ein Netzwerk von Stadtstaaten, die ihr Wachstumspotential optimal ausnutzen und denen es gelingt, die am Ende doch übermächtigen 'Raubstaaten' (predatory states) Makedonien und Rom so zu prägen, dass das Erbe ihrer Kultur in einzigartiger Weise präsent blieb - bis heute! Ober zeigt vor dem Hintergrund der ökologischen Bedingungen ein prosperierendes Griechenland mit einem Wohlstandsniveau, das erst im 20. Jahrhundert wieder erreicht wurde (3). Er führt ferner überzeugend vor, welche Voraussetzungen für eine langfristig gedeihliche wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung gegeben sein müssen, nämlich breite Teilhabe an der Politik und Vertrauen in die Zukunft, ferner funktionierende Institutionen, die beides sichern. Antike und Gegenwart werden hier auf analytischer Ebene auf einmal wieder kommensurabel, ohne modische Alteritätsobsession oder obsolete Vorbildbeschwörung.
Dabei fordert Ober dem mit 'normalen' Erzählungen der griechischen Geschichte vertrauten Leser einiges ab. Zwar holt er ihn mit geläufigen Figuren (Lord Byron; Platons Wort von den Griechen als Fröschen oder Ameisen um einen Sumpf etc.) in einem vertrauten Umfeld ab, entführt ihn dann aber in eine Welt, in der es um Bevölkerungsentwicklung und Bruttosozialprodukt, ökologische Rahmenbedingungen, Typologien und spieltheoretische Beobachtungsanordnungen geht, um Investitionen in Wissen und Können, um Spezialisierung und Austausch, Transaktionskosten und Wohlstandsindices, Innovation und Mobilität, um rational choice und 'kreative Zerstörung'. Ein zentraler Begriff ist "efflorescence", definiert als wirtschaftliches Wachstum in Verbindung mit einem deutlichen Aufschwung kultureller Errungenschaften. [3] Der griechische agôn, bisher fast immer als befruchtendes Element im Bereich der Kultur und häufig zerstörerisch in den unfriedlichen inner- wie zwischenstaatlichen Verhältnissen (Stasis bzw. Hegemoniestreben) gebucht, figuriert hier als Antriebsmoment von "competitive emulation" unter dem Regime von "fair rules".
Die Analyse ist weit entfernt von jedem platten Ökonomismus. Vielmehr zeigt sie, wie und warum "political development drove exceptionally high individual and collective investments in human capital, high levels of economic specialization and exchange, continuous technical and institutional innovation, high mobility of people and ideas, low transaction costs, and ready transfer of both goods and ideas" (XIX). Den Vergleichsmaßstab bildet dabei selbstverständlich nicht die industrielle Moderne, sondern der in der Regel monarchisch regierte vormoderne "natural state". Ihm stand Hellas als doppelte Alternative gegenüber, stellt es sich doch dar als "city-state ecology" von intern mehr oder minder partizipatorisch organisierten Bürgerstaaten. Die Poleis und ihre Bürger hätten mit ihrer auf Teilhabe ausgerichteten Institutionalisierung auf dem Weg zu einer spezifischen Staatlichkeit in Form von Recht, Administration, aber auch gemeinsamer Kultur einen günstigen Handlungsrahmen geschaffen. Dieser verminderte Informationsdefizite auf Märkten, schuf Vertrauen in faire Regeln [4], senkte die Transaktionskosten für wirtschaftliche Betätigung und gab so Anreize für Unternehmungen auf vielen Gebieten. Der Wettbewerb in einem überwiegend verlässlichen Rahmen habe strategische Kooperation, Innovation sowie eine Diversifizierung der Ökonomie begünstigt.
Kapitel 1 skizziert "the puzzle of classical Greek exceptionalism", die Kapitel 2 bis 4 entwerfen das Tableau einer dezentralisierten Ökologie der vielen Hundert Kleinstaaten, die ohne zentrale Führung im Wettbewerb voneinander lernten (schon lange unter dem Stichwort "peer-polity-interaction" diskutiert), und suchen Gang und Grad des Wachstums quantifizierend zu erfassen. Das in mancherlei Hinsicht zentrale Kapitel 5 benennt die beiden Haupttriebkräfte der Prosperität: erstens die Etablierung fairer Regeln, die dazu ermutigten, vielfältige Expertisen und Kompetenzen zu entwickeln - Ober zieht das unschöne Wort "investment in human capital" vor -, zweitens die schon genannten Faktoren Wettbewerb, Innovation und vernunftgeleitete Kooperation. In den Kapitel 6 bis 9 wird "the historical development of citizen-centered politics and economic growth" in der Zeit von Homer bis Aristoteles behandelt [5], wobei wegen der bekannten Quellenlage die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Athen, Sparta und Syrakus im Vordergrund stehen. Mit Recht bringt Ober das langfristige Scheitern aller übergreifenden Herrschaftsbildungen von dem Aufstieg Makedoniens mit der Zähigkeit der dezentralen Stadtstaatenökologie in Zusammenhang; umgekehrt waren in Hellas Wohlstand und Wachstum auch in den jeweiligen postimperialen Phasen möglich.
In Kapitel 10 erklärt Ober den politischen Niedergang des polyzentrischen Hellas gerade mit dessen Erfolg: Machthaber wie Philipp II. und Alexander, die "most talented of these entrepreneurial opportunists", erschlossen ihre eigenen überlegenden Ressourcen mithilfe der militärischen und finanziellen Expertise der einst führenden Stadtstaaten und beendeten deren Dominanz. Damit dementiert Ober sicher zutreffend den exklusiven Konnex zwischen demokratischer Institutionalisierung und dynamischer Wirtschaft. Da Alexanders Eroberungen und die hellenistischen Reichsbildungen nochmals einen ganz neuen Handlungsraum schufen, kann man hier im Sinne Schumpeters tatsächlich von einer 'kreativen Zerstörung' sprechen. Das abschließende Kapitel 11 skizziert "the surprising robustness of the polis ecology and continued high economic performance in the postclassical era", wo auch unter geänderten außenpolitischen Rahmenbedingungen und trotz einer zunehmenden soziopolitischen Differenzierung der Polisgesellschaften das Vertrauen in Institutionen, soziale Netzwerke und individuelle Kreativität fortbestehen konnte. Freilich klammert Ober die hellenistische Zeit aus der Detailanalyse aus.
In einigen der 'konventionellen' Skizzen des historischen Substrats ist manches zu holzschnittartig geraten und neueste Forschung nicht verarbeitet; so erscheint das Bild der bronzezeitlichen Palastökonomie undifferenziert (125) und ist die spartanische krypteia als "state-sponsored terror organization" (139 u.ö.) sicher verzeichnet. Generell fällt auf: Obers beeindruckende interdisziplinäre, komparatistische und transepochale Belesenheit - die Bibliografie umfasst knapp 750 Titel - ist eine fast ausschließlich englischsprachige Belesenheit. Aber um die Flurgespräche in Stanford ist er in jedem Fall zu beneiden (332 Anm. 26; 334 Anm. 17 und 25; 345 Anm. 36).
Zu den neuen Unbefangenheiten von 'Big History' gehört, dass sie sich nicht scheut, antike Befunde einer desorientierten Gegenwart mitzugeben, vertrauend auf die epochenübergreifende Universalität der ermittelten ökonomischen, politischen und psychologischen Zusammenhänge. Anders als die ungemein zeitgebundene, lebensweltlich geradezu ignorante klassische Liberale Theorie scheint sich die Neue Institutionenökonomik in der Tat als epochenübergreifend aufschlussfähig zu erweisen. Als Konsens kann inzwischen gelten, dass sich Faktoren wie die Sicherung von Eigentumsrechten und das daraus erwachsende Vertrauen, ferner die Einhegung der Macht partieller Interessen und Gruppen, effiziente staatliche Leistungen sowie ein geringes Niveau der Korruption in jedem Fall positiv auf den Wohlstand auswirken. "Die gute Welt, die diese Forschung beschreibt, klingt ein bisschen nach dem alten Athen." [6] Doch weit über jede historia-magistra-vitae-Plattheit hinausgehend hat Josiah Ober ein in vielerlei Hinsicht aufregendes, unbedingt lesenswertes Buch über das antike Griechenland geschrieben, das mit Glück schon in Kürze auch übersetzt vorliegen wird. [7]
Anmerkungen:
[1] Für zwei markante Programmentwürfe s. Page duBois: Out of Athens. The New Ancient Greeks, Cambridge, Mass. / London 2010; Kostas Vlassopoulos: Unthinking the Greek Polis. Ancient Greek History beyond Eurocentrism, Cambridge 2007 [dazu kritisch: Justus Cobet, in: Gnomon 82 (2010), H. 1, 34-37]. Kaum zufällig hat Vlassopoulos eine vernichtende Rezension von Obers Buch publiziert, in: BMCR 2016.03.04, http://bmcr.brynmawr.edu/2016/2016-03-04.html.
[2] Vgl. Ian Morris: Why the West Rules - For Now. The Patterns of History and What They Reveal about the Future, New York 2010 (dt.: Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, Frankfurt/M. 2011); ders.: The Measure of Civilization. How Social Development Decides the Fate of Nations, Princeton 2013; ders.: War! What Is It Good For? Conflict and the Progress of Civilization from Promates to Robotes, New York 2013 (dt.: Krieg. Wozu er gut ist, Frankfurt / New York 2013). Ober spricht von einem "larger project of understanding political and economic exceptionalism" (XVIII).
[3] Dass von diesen dann kaum die Rede ist, moniert R. Osborne in seiner Rezension, in: American Historical Review 121 (2016), H. 1, 187-189. Das stimmt, aber Ober ging es eben nicht um eine alle Bereiche abdeckende Gesamtgeschichte, und die kulturellen Leistungen der Hellenen sind anderswo mehr als ausreichend ausgeleuchtet. Wichtiger ist, dass die kulturelle Produktivität durch funktionierende Märkte und vertrauensgesättigten Wettbewerb tatsächlich wesentlich befördert wurde und sie umgekehrt die Handlungssphäre der Individuen ihrerseits stabilisierte; Obers These trifft also zu. Das ist evident für die Vasenmalerei, deren Aufschwung funktionierende Exportmärkte und Produzentenkonkurrenz voraussetzte, aber auch für die attische Tragödie: Wenn es jedes Jahr in einem festen, berechenbaren und als fair betrachteten Wettbewerb bei großer öffentlicher Aufmerksamkeit Ehre und weitere Aufträge zu gewinnen gab, förderte das institutionelle Umfeld des Tragödienagons offenbar die Kreativität und den ästhetischen Mut eines Aischlylos, Sophokles, Euripides und vieler anderer Dichter, in höherem Maße, als etwa Mäzenatentum durch einen Herrscher dies vermochte.
[4] Zu diesem wichtigen Aspekt s. Steven Johnstone: A History of Trust in Ancient Greece, Chicago 2011; dazu meine Rezension, in: sehepunkte 13, 2013, Nr. 3, http://www.sehepunkte.de/2013/03/22592.html.
[5] Die wiederkehrende Rede vom "Classical Greece" ist nicht im engeren Periodisierungssinn als 5. und 4. Jh. zu verstehen, sondern eher im Grote'schen Sinn, wobei in Obers Buch natürlich aus Quellengründen viel mehr vom 4. als vom 7. und 6. Jh. v.Chr. die Rede ist.
[6] Roman Pletter: Sie sollten wieder Katzen jagen, in: Die Zeit Nr. 28 v. 9. Juli 2015, 19. Ebd. (20) wird auf eine aktuelle Studie zweier griechischer Ökonomen verwiesen, die den Titel trägt: "Moral, Institutionen, Wachstum: Lehren aus dem antiken Griechenland".
[7] Josiah Ober: Das antike Griechenland. Eine neue Geschichte. Aus dem Englischen von Martin Bayer / Karin Schuler, Stuttgart 2016 (für Oktober angekündigt).
Uwe Walter