Naoë Kukita Yoshikawa (ed.): Medicine, Religion and Gender in Medieval Culture, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2015, XV + 293 S., ISBN 978-1-84384-401-3, GBP 60,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Gilles de Corbeil: Liber de uirtutibus et laudibus compositorum medicaminum. Édition et commentaire de Mireille Ausécache, Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2017
Joël Chandelier: Avicenne et la médecine en Italie. Le Canon dans les universités (1200-1350), Paris: Editions Honoré Champion 2017
Alexander Bailey Gauvin et al. (eds.): Hope and Healing. Painting in Italy in a Time of Plague, 1500-1800, Worcester, MA: Worcester Art Museum 2005
Obgleich eingebettet in eine Publikationsreihe, die Genderfragen im Mittelalter fokussiert, werden in den elf Beiträgen des Bandes sehr unterschiedliche Aspekte der mittelalterlichen Alltagswelt präsentiert, etwa ein Aufsatz zum (recht ambivalenten) Bild der Ärzte bei Chaucer von Roberta Magnani, die besonders die Rolle weiblicher Heilerinnen und deren zunehmende berufliche Ausgrenzung seit dem 12. Jahrhundert darlegt, eine Entwicklung, die ihrer Meinung nach allerdings durch den aufblühenden Marienkult gebremst wurde. Wie bei Diane Watts Beitrag ("Mary the physician") gilt dabei die Visionärin Christina von Markyate als wichtige Kronzeugin, der die Madonna, wie es die Legende will, sogar am Krankenbett erschien. Interessant erscheint die spirituelle Heilung auch in den Gedichten von John Audelay (15. Jahrhundert), wobei Takami Matsuda zeigen kann, dass Krankheiten wie so oft - nach biblischem Kontext bzw. der Interpretation des Kirchenvaters Augustinus - als Folge der Sünde entstehen und deshalb nur durch Gebet und religiöse Praktiken wirklich geheilt werden können. Dieser Topos ist in Theologie wie Medizingeschichte nicht neu, wird aber am Beispiel vor allem englischer Autorinnen und Autoren des Mittelalters noch einmal exemplarisch gezeigt.
Louise M. Bishop erläutert das hieraus folgende, im (Spät)mittelalter sehr verbreitete Konzept von seelischer Gesundheit und Heilung am Beispiel der Schriften des Bischofs von Chichester Reginald Pecock (gest. 1461). Am Beispiel von dessen volkssprachlicher Abhandlung über das Herz - für Augustinus, Thomas von Aquin, Duns Scotus und Ockham im aristotelischen Sinn Sitz der Seele bzw. des Intellekts - verweist die Autorin in ihrem subtilen Beitrag auf die Rolle dieses zentralen, übergeordneten Organs, das als Koordinationspunkt äußerer und innerer Einflüsse und Eindrücke ("morality" und "materiality") und damit auch als Sitz des Gewissens galt. Leidenschaften, tugendhaftes Verhalten, Mahlzeiten, Gedanken, Gespräche und allgemeiner Gesundheitszustand bedingen sich gegenseitig.
Während einige im Band behandelte Sujets, etwa weibliche Heilige (inklusive der Madonna) als klassische Gesundheitsprotektoren auch in der deutschsprachigen Literatur (Kunstgeschichte, Kirchengeschichte, Medizingeschichte) längst ausführlich behandelt worden sind, was von den Autorinnen des Bandes leider nicht berücksichtigt wird, liegt ein Reiz des Buches in der Präsentation einiger als Heilerinnen bekannt gewordener Frauenpersönlichkeiten im Werk englischer Literaten sowie von Mystikerinnen bzw. Seherinnen, die außerhalb des englischen Sprachraums weniger bekannt sind wie Margery Kempe (gest. um 1439) oder die Einsiedlerin Juliana von Norwich (gest. um 1416). In verschiedenen, solide erarbeiteten Beiträgen wird versucht, Visionen und Therapieeffekte weniger medizinisch bzw. psychiatrisch zu klären, sondern aus ihrem geistig-religiösen Kontext heraus zu verstehen, wobei die Berechtigung bestimmter moderner Diagnosestellungen nur bedingt in Abrede gestellt wird. Zu Recht wird allerdings die kritiklose Übertragung moderner Diagnosekriterien (DSM) kritisiert.
Diane Watt versucht zu zeigen, dass bei religiös inspirierten Heilerinnen nicht selten die Muttergottes als Vorbild bzw. Mittlerin galt, welche dann die Rolle der eigentlichen medica einnahm (nicht unähnlich dem später von Ambroise Paré vertretenen ärztlichen Motto: "Je le pansai, Dieu le guérit"). Christus selbst erscheint oft genug bildhaft als "Antidot" im mittelalterlich-medizinischen Sinn, wobei dieser Begriff in der deutschsprachigen und theologischen Literatur, die hier wiederum nicht berücksichtigt wird, geradezu einen Topos darstellt (vgl. Hieronymus Weller 1564).
Patricia Skinner beschäftigt sich mit frühen physiognomischen Interpretationen (Gesichter, Körperhaltungen, Entstellungen), wie sie etwa Michael Scotus am Hofe Friedrichs II. propagiert hat. Manche Heilige versuchten ihrem Gesicht durch Kasteiung und Askese einen bestimmten Ausdruck zu verleihen - bis hin zur demütigenden, gewollten Zerstörung der eigenen Schönheit. Uralte Assoziationen von Verbrechen, Verstümmelung und Sünde, aber auch Reinigung und Korrektur spielten hier offensichtlich eine wichtige Rolle. "Marking the face, curing the soul" lautete das Schlagwort.
Im Zusammenhang zu dieser Thematik untersucht Joy Hawkins die Bedeutung der Blindheit wie des Blendens. Auch hier wird die extreme, radikale Behinderung häufig mit Schuld und Strafe verbunden. Bei Bartholomaeus Anglicus (gest. nach 1250) und anderen Autoren wird Blindheit mit Trunkenheit verbunden. Der interessante Beitrag zeigt die Vielschichtigkeit der mittelalterlichen Erklärungen von Sehstörungen und ihrer (weltlichen wie geistlichen) Therapiekonzepte. Auch Missbildungen stellten in der ebenso symbolisch wie abergläubisch denkenden Gesellschaft ein vielbeachtetes und vielschichtiges Phänomen dar, wie Irina Metzler zeigen konnte, wobei die Frage der Gründe wiederum eng mit Schuld verbunden wird.
Das Buch zeigt ausnahmslos lesenswerte Beiträge, welche das Bild der mittelalterlichen Medizin auf interessante Weise erweitern. Die englischsprachige Sekundärliteratur wird ausgiebig konsultiert. Dass wie längst üblich deutschsprachige Forschungen zum Thema negiert werden, ist bedauerlich. Auffallend ist, dass philosophische Therapiekonzepte unserer Zeit, etwa von Canguilhem, fehlen. Das Buch ist weniger theorielastig als deutsche Adepten angloamerikanischer Wissenschaftsmethodik für deutsche Publikationen gerne einfordern. So ist es leicht und flüssig zu lesen, hauptsächlich quellenorientiert und deshalb eine Fundgrube zur mittelalterlichen Medizin, wie sie im englischen Raum vor allem von Frauen betrieben und begründet wurde.
Klaus Bergdolt