Helen Gittos / Sarah Hamilton (eds.): Understanding Medieval Liturgy. Essays in Interpretation, Aldershot: Ashgate 2016, XVI + 332 S., ISBN 978-1-4094-5150-1, GBP 75,00
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Worum es in dem hier zu besprechenden Sammelband geht, deutet dessen Titel: "Understanding Medieval Liturgy. Essays in Interpretation" nur an. Ausführlicher erläutern die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung das Ziel: Möglichkeiten, Grenzen und Probleme der Quelleninterpretation sollen im Blick auf das Verständnis mittelalterlicher liturgischer Riten weniger für ein liturgisch-theologisches Fachpublikum, sondern für Mediävisten allgemein vorgestellt und diskutiert werden. Dies soll nicht zuletzt an Fallbeispielen geschehen, wobei nicht die alltäglichen liturgischen Vollzüge wie Messfeier und Stundengebet, sondern die weniger gut erforschten "occasional rites" (1) wie Buße, Kirchweihe, die Feier des Palmsonntags usw. untersucht werden.
Der erste Teil, "Researching Rites", enthält drei Beiträge, die, abgesehen von dem zweiten, auf den noch zurückzukommen sein wird, Überblickscharakter besitzen. Dies gilt besonders für den eröffnenden Aufsatz von H. Gittos, der nicht nur einen instruktiven Überblick bietet, sondern immer wieder Bezug auf die folgenden Beiträge nimmt, so dass er geradezu den Charakter einer zweiten Einleitung trägt. Überhaupt muss lobend hervorgehoben werden, wie gut der Band komponiert ist und wie stark die einzelnen Beiträge sich aufeinander beziehen. Das Buch ist weit mehr als eine der leider nur zu häufigen Buchbindersynthesen. Der dritte Aufsatz (W. F. Flynn) blickt auf die liturgischen Riten aus der Sicht der musikwissenschaftlichen Forschung (deren Beitrag zur liturgiegeschichtlichen Forschung, gerade auch in jüngerer Zeit, kaum zu überschätzen ist).
Die drei folgenden Teile bieten vor allem Fallstudien. Von besonderem Interesse - jedenfalls für den Rezensenten - ist der zweite Teil ("Questioning Authority and Tradition"). Hier geht es nicht darum, Autorität und Tradition der Kirche in Frage zu stellen, sondern jene der Wissenschaft und der Editionen. Im zweiten Beitrag dieses Teils destruiert M. C. Salisbury das überkommene Bild von den beiden die Liturgie im spätmittelalterlichen England prägenden Bräuchen von Sarum und York. Eine derartige Dichotomie verdecke die tatsächliche mittelalterliche Pluralität und Variabilität der Riten. Nicht zuletzt die Editionen des 19. und 20. Jahrhunderts hätten dieses zu statische Bild befestigt. [1]
Für den kontinentalen, besonders für den deutschen Leser ist der vorangehende Aufsatz von noch größerem Interesse. H. Parkes interpretiert das berühmte Pontificale romano-germanicum (PRG), die bedeutendste liturgische Neuschöpfung des 10. Jahrhunderts, wie der Autor eine repräsentative Forschungsmeinung einleitend zitiert, mit guten Gründen zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend als editorisches Artefakt. Allerdings hätte die Argumentation noch gewonnen, wenn Parkes expliziter die der Rekonstruktion eines Archetyps verpflichtete Editionsmethode, ihre wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen und ihr Erkenntnisinteresse diskutiert hätte. Dann wäre deutlicher geworden, dass das PRG nicht einfach das problematische Ergebnis einer unter schwierigen Bedingungen unternommenen Edition ist.
Der dritte Teil geht der Vielgestaltigkeit und fehlenden Normierung der mittelalterlichen Liturgie anhand von exemplarischen Studien zur Exkommunikation (S. Hamilton), zum Exorzismus (F. Chave-Mahier) und zur Kirchweihe (M. B. Bruun und L. I. Hamilton) nach. Der vierte Teil ist nicht ganz glücklich "Texts and Performances" überschrieben, denn sein erster Aufsatz behandelt nicht das Verhältnis von liturgischen Texten und (tatsächlicher) Gestaltung der Liturgie, sondern fragt nach der Rolle der Architektur in der Ausführung liturgischer Riten (C. M. Malone). Während er exemplarisch vorgeht, gibt der letzte Beitrag des Bandes (C. Symes) einen instruktiven, problemorientierten Überblick über das Verhältnis von Text und Performanz in der mittelalterlichen Liturgie.
Der Band richtet sich explizit - aber nicht nur - an Neulinge auf diesem Gebiet (2). Wer konkret damit gemeint sein soll, ist dem Rezensenten nicht klar geworden. Dass man kaum an Erstsemester gedacht hat, zeigt schon der Hinweis, im Umgang mit Editionen vorsichtig zu sein und lieber gleich die Handschriften selbst zu studieren (25). Den angezielten Zweck möchte der Band durch eine Mischung aus praktischer Anleitung, Fallstudien und bibliographischer Orientierung erreichen (3). In dieser Hinsicht kann er jedoch nicht voll überzeugen. Die geschilderte Mischung aus Überblicksartikeln und Fallstudien ist ausgewogen und überzeugend. Dies gilt jedoch weniger für andere Aspekte.
Liturgische Fachbegriffe werden kaum, eher zufällig und recht oberflächlich erklärt (etwa 4, Anm. 4). Das ist umso erstaunlicher, als sich das Buch explizit an Mediävisten ganz unterschiedlicher Disziplinen richtet, die sich mit liturgischen Quellen beschäftigen wollen oder müssen. Ob es da ausreicht, ein Antiphonar als "a collection of antiphons" (ebd.) zu beschreiben? - selbst wenn dem aufmerksamen (und sämtliche Beiträge zur Kenntnis nehmenden) Leser schließlich auf S. 220 am Ende von Anm. 49 doch noch erklärt wird, was eine Antiphon ist? Ein Glossar wäre hier zweifellos sinnvoll gewesen.
Von bibliographischer Orientierung kann ebenfalls nur bedingt die Rede sein. Die "Bibliography" leistet sie kaum. Sie ist zwar umfangreich (269-311), führt aber nur die in den Beiträgen angeführten Titel auf. So fehlt manches, dessen Kenntnis nützlich wäre, während die dekontextualisierte und unkommentierte Anführung etlicher Spezialstudien, deren Zitation in den jeweiligen Fallstudien ihren guten Sinn hat, ziemlich nutzlos ist (sieht man von der Identifizierung der Kurztitel ab). Hier wäre eine sachliche gegliederte und kommentierte Auswahlbibliographie weitaus sinnvoller gewesen. Eine bessere Orientierung als das Literaturverzeichnis bietet für einen begrenzten Bereich auf unkonventionelle Weise der bisher übergangene zweite Aufsatz des Bandes. In ihm schildert F. S. Paxton in einer Art intellektuellen Autobiographie seine Forschungen zur klösterlichen Sterbeliturgie des Frühmittelalters und erläutert dabei Quellen und Literatur, die für sein Unternehmen wichtig waren (oder es hätten sein können, wenn er sie gekannt hätte oder sie damals schon erschienen wären).
In der Einleitung sprechen die Herausgeberinnen die Hoffnung aus, das Buch möge hilfreich und stimulierend sein (3). Mussten im Blick auf die erstgenannte Eigenschaft einige Einschränkungen gemacht werden, kann der Rezensent nur bestätigen, dass die zweite die Hoffnungen vollauf erfüllt. Eine alternative Formulierung spricht von einem provokanten Buch, das man erhoffe (ebd.). Das ist es in der Tat geworden - allerdings nicht ein Werk, das die Provokation um der Provokation willen sucht, sondern das aufgrund solider Argumentationen lang gehegte Überzeugungen und Lehrmeinungen ins Wanken bringt oder ganz verabschiedet. Was an ihre Stelle tritt, ist diffuser und unübersichtlicher, aber näher an den Quellen. Eine neue Meistererzählung kann und will das Buch nicht bieten. Gleichwohl ist seine Lektüre - wenn auch voraussetzungsvoller, als die Herausgeberinnen meinen - ebenso anregend wie informativ.
Anmerkung:
[1] Allerdings argumentiert später C. M. Malone in einer Weise - unter Berufung auf M. C. Salisbury! - mit dem Brauch von Sarum (226-227, Anm. 68), wie es nach diesem Beitrag so eigentlich nicht mehr möglich ist.
Stephan Waldhoff