Rezension über:

Claude Andrault-Schmitt / Philippe Depreux: Les chapitres séculiers et leur culture. Vie canoniale, art et musique à Saint-Yrieix (VIe-XIIIe siècle), Limoges: PULIM 2014, 580 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-2-84287-626-5, EUR 45,00
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Rezension von:
Julian Führer
Historisches Seminar, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Julian Führer: Rezension von: Claude Andrault-Schmitt / Philippe Depreux: Les chapitres séculiers et leur culture. Vie canoniale, art et musique à Saint-Yrieix (VIe-XIIIe siècle), Limoges: PULIM 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/26332.html


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Claude Andrault-Schmitt / Philippe Depreux: Les chapitres séculiers et leur culture

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Die Französische Revolution brachte die Aufhebung der geistlichen Gemeinschaften mit sich. Berühmt sind die Berichte über die Vertreibung der Geistlichen und die Zerstörungen an französischen Kirchenfassaden, über die Einschmelzung kostbarer Metallgegenstände und den vielfachen Abriss der Kirchenbauten in den folgenden Jahrzehnten. Doch nicht immer ging dieser Prozess so gewaltsam vor sich. Im kleinen Saint-Yrieix im Limousin, bis dahin ein Kanonikerstift, wurde 1791 ein schriftliches Inventar zusammengestellt, die Kanoniker kehrten zu ihren Familien zurück, die noch vorhandenen Objekte wurden eingeschlossen.

Da der Bau erhalten ist und wir auch sonst einiges über die Gemeinschaft und ihren Gründer wissen, sich zudem kostbare Handschriften und einige liturgische Objekte erhalten haben, konnten Claude Andrault-Schmitt und Philippe Depreux eine Tagung veranstalten, die die Grundlage für vorliegenden Band bildet. 27 Aufsätze nähern sich mit einem disziplinär jeweils unterschiedlichen Zugriff der Geschichte eines Stifts, das nie Schauplatz von Ereignissen welthistorischen Ausmaßes war, weder durch seine Größe noch durch seine Lage irgendwie auffällig wäre, aber gerade deshalb besondere Aufschlüsse über das Leben von Geistlichen und speziell Stiftsherren im Hochmittelalter erlaubt. Die ersten sechs Beiträge in diesem Band haben entsprechend "Le monde des chanoines" als Untersuchungsgegenstand. Hervorzuheben sind hier der historische Überblick von Brigitte Meijns (Les chanoines séculiers: histoire et fonctions dans la société, 15-30) und die gründliche Studie von Hubertus Seibert (Vivre en communauté? Les chanoines dans l'Empire germanique, Xe-XIIe siècle, 47-78), in der ein auf Stifte ausgerichtetes Portrait der Reichskirche geboten wird, das für die französischsprachige Forschung sicherlich von hohem Nutzen sein wird, zumal es in Frankreich kein der "Germania sacra" vergleichbares Unternehmen gibt.

Saint-Yrieix geht auf eine Gründung durch Aredius im 6. Jahrhundert zurück, der sowohl mit Gregor von Tours als auch mit Venantius Fortunatus in Kontakt stand und daher gut bezeugt ist. Besonders bemerkenswert ist sein Testament, das erhalten geblieben ist und von dem Philippe Depreux eine zweisprachige kommentierte Neuedition bietet (153-185). Catherine Faure (Aredius (Yrieix) et ses amis. Réflexions sur les réseaux aristocratiques au VIe siècle, 187-210) skizziert das Netzwerk, in dem Aredius sich bewegte. Es wird deutlich, dass die Interpretation der in der Karolingerzeit einer Réécriture unterzogenen Vita Aredii für diese frühe Zeit das Kernproblem darstellt, da die Glaubwürdigkeit der Quelle bei Details wie persönlichen Beziehungen stets fraglich bleibt. Doch auch im Hochmittelalter ist die Quellenlage oft auffallend schlecht, wie Anne Massoni unterstreicht (Le chapitre de Saint-Yrieix: une dépendance martinienne en terre limousine, 221-235). Anscheinend sind 1569 im Zuge der Religionskriege bedeutende Verluste eingetreten. Einige Dokumente von zentraler Bedeutung lassen sich trotzdem ermitteln, unter anderem eine Fälschung auf den Namen Karls des Großen von angeblich 794, in der man Saint-Yrieix den Kanonikerstatus und die Zahl der Präbenden bestätigte, sowie eine Urkunde von 1090, in der die Unterstellung unter das große Martinsstift in Tours erneuert wurde. Im Laufe des 9. Jahrhunderts wurde Saint-Yrieix eindeutig als Kanonikerstift fassbar, Saint-Martial in Limoges hingegen als Benediktinerkloster. Es sei möglich, so Massoni, dass im Zuge dieser Vereindeutigung einiges schon im Sinne einer Rückprojektion in die zur gleichen Zeit überarbeitete Vita Aredii eingefügt wurde, um den Status zusätzlich zu legitimieren. Aus dem Mittelalter sind dann erst wieder Statuten von 1445 erhalten. Wir wissen aber, dass mehrfach Stiftsdekane von Saint-Yrieix in ihrem weiteren Karriereverlauf zu Bischöfen von Limoges aufstiegen.

Überhaupt war das Arediusstift nicht so unbedeutend, wie es die heutige Lage vermuten lassen könnte. Eine wohl bereits seit dem Mesolithikum genutzte Fernverbindung aus der Bretagne zum Mittelmeer führte hier entlang (Romain Boisseau, Aux origines de Saint-Yrieix-la-Perche. Une approche archéologique du site, 293-299), und in den Jahrhunderten vor Christi Geburt wurde dort nach Gold gegraben. König Heinrich II. von England verbrachte gemäß Gottfried von Vigeois einige Tage an diesem Ort; sein Aufenthalt fällt in die Zeit des Neubaus der Stiftskirche, der verblüffend schnell vonstatten ging, so dass Jean-Pierre Thuillat (237-243) eine Förderung durch den Plantagenêt vermutet. Ende des 13. Jahrhunderts war ein Onkel des Bernard Gui dort Stiftsherr.

Der Kult des Heiligen hingegen konnte sich nie wesentlich über die engere Region hinaus entwickeln. Die Diözese Poitiers zählte Anfang des 14. Jahrhunderts 1260 Pfarreien - genau eine davon mit Aredius-Patrozinium. Die trotz allem prominente Stellung des Stifts äußerte sich in einem immer noch imposanten Bau, der im 12. und 13. Jahrhundert erweitert wurde. Die Baustruktur wird von Claude Andrault-Schmitt analysiert (345-390), Spezialstudien von Xavier Lhermite zur oktogonalen gotischen Apsis, von Vincent Debiais zu den Steinmetzzeichen und von Marcello Angheben und noch einmal Vincent Debiais zur an der Südseite des Baus befindlichen Maiestas Domini runden den baugeschichtlichen Teil ab, während Jean-François Boyer aufgrund gründlicher Berichte und Abschriften des Kanonikers Antoine de Jarrige aus dem 16./17. Jahrhundert die Geschichte der Reliquien und des weiteren Kirchenschatzes rekonstruiert und einen nützlichen Katalog der Zeugnisse und gegebenenfalls der heutigen Aufbewahrungsorte zusammenstellt (439-471).

Einem breiteren (Fach-)Publikum ist Saint-Yrieix allenfalls durch eine monumentale Bibelhandschrift bekannt (Saint-Yrieix-la-Perche, Bibliothèque municipale, ms. 1), die zu Beginn des 12. Jahrhunderts entstand und durch ihr großes Format und ihre reiche Bebilderung hervorsticht. Bezüge zum Sakramentar der Kathedralkirche Saint-Étienne de Limoges (BN lat. 9438) und zur sogenannten Bible Mazarine (Paris, Bibliothèque Mazarine, ms. 1 und 2) werden von Marianne Besseyre und Éric Sparhubert diskutiert (475-498). Das Graduale von Saint-Yrieix (BN lat. 903) gelangte bereits 1730 beim Verkauf der Handschriften des Martialisklosters von Limoges in die Bestände der Bibliothèque Royale, stammt aber ursprünglich aus Saint-Yrieix, wie die Passagen zur Verehrung des heiligen Aredius belegen. Dieser in der Musikwissenschaft berühmten Handschrift, die in mehrfacher Hinsicht eine Zwischenstation hin zur Notation auf mehreren Linien und in der Behandlung der Halbtöne darstellt und bemerkenswerte Proseln enthält, widmen sich Beiträge von Christelle Cazaux-Kowalski, Marie-Noël Colette und Gunilla Iversen.

In der Zusammenfassung des Bandes (573-580) löst Cécile Treffort sich von der thematischen Aufteilung und wählt einen chronologischen Durchgang, um die Charakteristika und auch die Durchschnittlichkeit des Stiftes abschließend herauszuarbeiten. Ein dezidiert multidisziplinärer Zugriff zeigt in diesem Band beachtliche Ergebnisse. Man wünschte, andere geistliche Gemeinschaften würden ähnlich differenziert untersucht werden. Die Besonderheit, dass die Überlieferung für Saint-Yrieix sehr schmal ist, erweist sich hier wohl eher als ein Vorzug. Allenfalls bedauert man das Fehlen eines Registers und den Umstand, dass manche Reproduktionen eine zu niedrige Auflösung haben - was für die kunsthistorisch relevanten Abbildungen glücklicherweise nicht zutrifft.

Julian Führer