Rezension über:

Barbara J. Keys: Reclaiming American Virtue. The Human Rights Revolution of the 1970s, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2014, 368 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-0-674-72485-3, USD 29,95
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Rezension von:
Robert Brier
London
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Robert Brier: Rezension von: Barbara J. Keys: Reclaiming American Virtue. The Human Rights Revolution of the 1970s, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/26736.html


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Barbara J. Keys: Reclaiming American Virtue

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Die Idee universeller und unveräußerlicher Menschenrechte gehört zum unhinterfragten Sinnhorizont westlicher Gesellschaften. Wurden die Ursprünge dieser Idee lange Zeit in weit zurückliegenden Epochen wie der Aufklärung oder der Antike verortet, hat sich in der internationalen Zeitgeschichte seit einiger Zeit die These herausgebildet, dass die gegenwärtige Bedeutung der Menschenrechte das Ergebnis ihrer Neuerfindung in den 1970er Jahren ist. Barbara J. Keys legt diese Argumentation für die US-amerikanische Zeitgeschichte auf beeindruckende und auf überzeugende Weise dar.

Keys' chronologisch aufgebaute und in zehn Kapitel gegliederte Darstellung setzt nach 1945 ein. Die ersten beiden Kapitel zeigen, dass Menschenrechte vor den 1970er Jahren eine bestenfalls untergeordnete Stellung in der amerikanischen Außenpolitik hatten. Wenn überhaupt, dann tauchten sie im Kontext der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre auf. Demgegenüber nahm die öffentliche Bezugnahme auf Menschenrechte seit Mitte der 1970er Jahre sprunghaft zu, und ihr Bedeutungsgehalt wandelte sich grundlegend: Sie wurden nun als internationale Normen verstanden, bei deren Durchsetzung es um den Schutz von Menschen außerhalb der USA ging. Keys' Hauptthese ist, dass diese Externalisierung zwar für eine Erklärung der US-Menschenrechtsrevolution entscheidend ist, sie aber wenig mit internationalen Entwicklungen zu tun hatte. Hauptursache war vielmehr der Wunsch der amerikanischen Öffentlichkeit, das emotionale Trauma des Vietnamkriegs zu verarbeiten. Die Menschenrechte boten hier den Vorteil, die mit Vietnam verbundenen Schuldgefühle auf andere Gesellschaften zu projizieren.

Menschenrechte konnten diese Funktion Ende der 1970er Jahre erfüllen, weil sie sich insbesondere von Vertretern beider Flügel der Demokratischen Partei für ihre politischen Ziele nutzen ließen. Außenpolitische Falken übernahmen die Sprache der Menschenrechte von sowjetischen Dissidenten, um Richard Nixons Entspannungspolitik zu untergraben und dadurch erneut einen moralischen Führungsanspruch der USA im Kampf mit dem Kommunismus zu behaupten. Für Vertreter des linken Flügels der Demokraten war Menschenrechtsarbeit attraktiv, weil sie mit ihrem damaligen Fokus auf Folter und politische Repression anschlussfähig an linke US-Kritik am südvietnamesischen Regime und der US-Politik in Südostasien war. Vor allem aber stellte sie eine minimalistische Alternative zu den großangelegten Entwicklungsprogrammen dar, die in Südvietnam so tragisch gescheitert waren. Während nation building nicht mehr als realistisches Ziel amerikanischer Außenpolitik erschien, konnte man nun wenigstens verhindern, dass die USA Repressoren wirtschaftlich oder militärisch unterstützten.

Zwei Entwicklungen verstetigten diese Menschenrechtsarbeit im Laufe der 1970er Jahre. Angesichts der realpolitischen Ausrichtung der USA durch Nixon und Henry Kissinger konnte der Kongress erstens mit Menschenrechtsarbeit Einfluss auf die Arbeit der Exekutive nehmen und so verlorene Kompetenzen zurückfordern. Zweitens bot die parlamentarische Arbeit linker Demokraten ein neues Betätigungsfeld für Nichtregierungsorganisationen wie vor allem Amnesty International, das in den 1970er Jahren eine explosionsartige Mitgliederentwicklung erlebte. Auch für die Aktivisten von Amnesty International, bei denen es sich überwiegend um desillusionierte Teilnehmer der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung handelte, stellt Keys fest, dass die Attraktivität von Menschenrechtsarbeit in ihrem vermeintlichen Minimalismus gründete. Mit einer einmaligen Spende von wenigen Dollar oder der Teilnahme an einer Mahnwache - suggerierten die Spendenaufrufe von Amnesty - konnte man zwar nicht die Welt oder auch nur die USA verändern, aber doch einen Gewissenshäftling vor Folter bewahren oder ihm sogar zur Freiheit verhelfen.

Ihren endgültigen Durchbruch erlebte diese Art von Menschenrechtspolitik mit der Präsidentschaft Jimmy Carters. Während Carter selbst in dieser Frage kaum Vorkenntnisse hatte, verknüpften die Mitarbeiter seines Wahlkampfstabs mit den Menschenrechten das Versprechen, nach Vietnam und Watergate moralische Grundsätze wieder zu einem Kernelement von US-Außenpolitik zu machen. Bereits der demokratische Präsidentschaftskandidat von 1972, George McGovern, hatte diesen Anspruch erhoben. Er hatte dabei aber die US-Gesellschaft aufgerufen, sich ihrer Mitschuld am Vietnamkrieg zu stellen. Carters Menschenrechtspolitik suggerierte nun, es ginge einzig darum, die Zusammenarbeit mit diktatorischen Regimen einzuschränken. Der Schlüssel zur moralischen Erneuerung lag also nicht in einer Veränderung der amerikanischen Gesellschaft - so Carters Menschenrechtsbotschaft -, sondern in der Veränderung anderer Gesellschaften.

Keys' blendend geschriebenes Buch ist ohne Zweifel ein wesentlicher Beitrag zur neueren Menschenrechtsforschung. Ihre Kernthese, dass die Menschenrechte der US-Öffentlichkeit eine Externalisierung von Schuld ermöglichten, ist ebenso einleuchtend wie tiefgründig. Keys belegt sie eindrucksvoll auf der Grundlage einer breiten Auswertung US-amerikanischer Archivalien. Dabei rekonstruiert sie überzeugend Motivlagen zentraler Akteure und ordnet sie in die Geschichte der von Vietnam und Watergate traumatisierten USA ein. Besonders eindrucksvoll ist Keys' Analyse der Methoden, Bilder und Texte, mit denen Amnesty International um Mitglieder warb. In ihrer differenzierten Darstellung dient Keys ihre übergreifende These zwar als durchgehender Leitfaden, sie verliert dabei aber eine Reihe anderer zentraler Faktoren, etwa den Konflikt zwischen Legislative und Exekutive oder die internationale Konstellation, nicht aus den Augen. Auch transnationale Zusammenhänge spielen in ihrer Argumentation eine wichtige Rolle. Prägende Menschenrechtskampagnen gegen Repressionen in Griechenland und Chile wären ohne Emigranten aus diesen Ländern nicht denkbar gewesen, und der Impetus zur Übernahme der Menschenrechtssprache selbst kam wesentlich von sowjetischen Dissidenten.

Bisweilen wäre vielleicht eine etwas andere Gewichtung in der Darstellung möglich gewesen. Während die Charakterisierung zentraler Akteure und politischer Maßnahmen breiten Raum einnimmt, wird die Bedeutung des in dieser Zeit aufkommenden Erinnerns an den Holocaust für Menschenrechtsdiskurse nur angedeutet. Eine Diskussion der methodischen Schwierigkeiten einer Geschichte von Emotionen bleibt ebenso aus wie weiterführende Schlussfolgerungen für eine Globalgeschichte von Menschenrechten.

Der letzte Kritikpunkt fällt deshalb so stark ins Gewicht, weil Reclaiming American Virtue exemplarisch für eine Menschenrechtsgeschichte steht, die sich jenseits von Verherrlichung oder Polemik zu einem differenziert argumentierenden und archivgestützten Forschungsfeld entwickelt hat. Mit ihrer hervorragend lesbaren Arbeit kontextualisiert Keys die US-Menschenrechtsrevolution der 1970er Jahre politik- und kulturhistorisch, treibt damit die Historisierung von Menschenrechtsdiskursen weiter voran und eröffnet nicht zuletzt eine kritische Perspektive auf die Menschenrechtspolitik unserer Zeit.

Robert Brier