Rezension über:

Karl-Peter Krauss: Quellen zu den Lebenswelten deutscher Migranten im Königreich Ungarn im 18. und frühen 19. Jahrhundert (= Schriftenreihe des Instituts für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde; Bd. 20), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015, 707 S., ISBN 978-3-515-10971-0, EUR 86,00
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Rezension von:
Bernadette Baumgartner
Ungarisches Institut, Regensburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Bernadette Baumgartner: Rezension von: Karl-Peter Krauss: Quellen zu den Lebenswelten deutscher Migranten im Königreich Ungarn im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/28084.html


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Karl-Peter Krauss: Quellen zu den Lebenswelten deutscher Migranten im Königreich Ungarn im 18. und frühen 19. Jahrhundert

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Nachdem 1686 Ofen (Buda) von der Osmanischen Herrschaft befreit worden war, vertrieben die vom Haus Habsburg geführten christlichen Truppen in jahrelangen Kämpfen die Türken aus dem Königreich Ungarn, das danach unter habsburgische Herrschaft kam. Um die während der Türkenkriege erheblichen Bevölkerungsverluste wettzumachen, wurden Deutsche aus dem Reich nach Ungarn gerufen. Die erste Ansiedlungswelle kam allerdings während des Rákóczi-Freiheitskampfes ins Stocken. Nach dem Frieden von Sathmar 1711 nahmen aber dann zehntausende deutsche Siedler ihren Weg nach Ungarn. Wie aus der reichhaltigen Bibliografie dieses Bandes, einer aus drei Teilen bestehenden Quellenedition, ersichtlich, haben sich zahlreiche Historiker mit der Geschichte dieser Ansiedlungen beschäftigt. Das vorliegende Werk ist ein neuer, imposanter Meilenstein in der Forschungsgeschichte.

In der Einführung formuliert Karl-Peter Krauss die Ziele seiner Arbeit, schildert den Forschungsstand sowie die Schwierigkeiten, denen er während der Materialsammlung begegnet ist, und stellt die Struktur der edierten Quellengruppen vor. In Zentrum seines Interesses steht der "homo migrans", der "gemeine Mann", in bestimmten Fällen die "gemeine Frau". Sein Augenmerk gilt dem Alltag der Siedler, einem von der Grundlagenforschung bislang vernachlässigten Thema, zu dem Primärquellen nur lückenhaft erschlossen worden sind. Das wissenschaftliche Interesse an den deutschen Dorfgemeinschaften in Ungarn hat sich ja relativ spät, zwischen den beiden Weltkriegen herausgebildet und ging nach 1945 für lange Zeit zurück.

In den schon bekannten Namenslisten der Siedler, Kirchenbüchern und sonstigen amtlichen Dokumenten kommt eine Person grundsätzlich nur als in eine bloße Angabe mit Namen, Berufsbezeichnung und Eigentumsverhältnissen vor. Karl-Peter Krauss möchte uns den Alltag dieser Siedler näher bringen, wobei er Antworten auf bisher wenig beleuchtete Fragen sucht: Wie sahen die Ansiedler ihre neue Heimat, welche Überlebensstrategien verfolgten sie in den schwierigen Anfangszeiten, wie lief ihr Leben in einem für sie fremden Land ab - einem Reich, dessen Gesetze und Sprache sie nicht kannten -, wie passten sie sich ihrer Umgebung an, in der mehrere Nationalitäten und Konfessionen lebten, auf welche Art und wie lange hielten sie Kontakt zu den Verwandten in der Urheimat.

Der Verfasser hat seine Quellen aus 50 Archiven zusammengetragen: insgesamt 138 Quellenkonvolute, die fast 700 Einzelquellen beinhalten. Dieses Quellenmaterial stammt einerseits aus dem Herkunftsland der Siedler, dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Österreich, Schweiz), andererseits aus Ungarn sowie aus weiteren Nachfolgestaaten der Österreich-Ungarischen Monarchie (Rumänien, Serbien, Slowakei). Die edierten Quellen decken den Zeitraum vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ab. Das älteste Dokument stammt aus dem Jahr 1694 (319, Nr. 82), das jüngste aus 1829 (501, Nr. 114.18.).

Der Verfasser schöpft für die Edition aus den Akten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit und den Unterlagen der Erbschaftsangelegenheiten und der Vermögenstransfers. Letztere sind großenteils in den Nachfolgestaaten der Monarchie, aber auch in verschiedenen deutschen Landesarchiven zu finden. Die Erschließungsarbeit wurde erschwert von der weiträumigen Streuung der Quellen, die in Landes-, Kreis-, Stadt- und Gemeinde- sowie in Familien- und Adelsarchiven aufbewahrt werden. Eine weitere Herausforderung stellten der ungleichmäßige Bearbeitungsgrad und die unterschiedlichen Bezeichnungen dar. Die in den Wirren der napoleonischen Kriege verstreuten Quellen ließen sich nicht lückenlos zusammenführen. Aus diesem Grund betont der Verfasser, dass die Forschung zu diesem Themenkreis nicht als abgeschlossen betrachtet werden könne.

Der zweite und umfangreichste Teil des Bandes, die Quellenedition selbst, besteht aus fünf Kapiteln. Der Verfasser hat die Dokumente thematisch und - innerhalb der Themenschwerpunkte - chronologisch angeordnet, und jeder Quelle eine kurze Zusammenfassung des entsprechenden Falles vorangestellt. Das erste Kapitel ist mit "Verordnungen, Geldtransfer und Aushandlungsprozesse" überschieben und enthält Materialien zum "Vermögensexport und Abzugsgeld", zur Wahrung von territorialherrschaftlichen Interessen und zu diplomatischen Interventionen, zu Emigrationsbeschränkungen sowie zu einigen Fällen der Emigration aus Vorderösterreich und der Reichsgrafschaft Falkenstein. Das zweite Kapitel "Formen und Folgen der Transaktionen" behandelt in erster Linie offiziell geregelte Vermögensangelegenheiten - Erbschaftssachen die durch Vollmacht oder aber illegal abgewickelt wurden -, sowie Investitionen durch Erbschaften. Hier sind auch Quellen zum umgekehrten Weg einer Erbschaft, nämlich aus der neuen in die alte Heimat, zu lesen. Das dritte Kapitel trägt die Überschrift "Zwischen Herkunftsraum und Zielgebiet" und gliedert sich in zwei Quellengruppen: Einzelne Briefe von Emigranten und Schreiben, aus denen die verwandtschaftliche Solidarität zwischen den Familien in den Herkunfts- und den Ansiedlungsgebieten erfassbar wird. Unter der Überschrift "Lebenswelten" finden sich Akten zur Alltagsgeschichte der Ankömmlinge, mit häufigen Hinweis auf Krankheit und Tod. Das letzte Kapitel befasst sich mit "Kriminellen Handlungen, Fehlzustellungen und Erbstreitigkeiten", dies unter besonderer Berücksichtigung von Konflikten innerhalb von Familien und vor Gericht.

Den abschließenden Teil des Bandes bildet der Anhang mit Karten, Archivalienverzeichnis, Personen- und Ortsregister, Listen der historischen Maßen sowie der erwähnten Bibliografie.

Die von Karl-Peter Krauss edierten Quellen vermehren unsere Kenntnisse über den Alltag der deutschen Siedler im Königreich Ungarn, indem sie Einblicke gewähren in die Motive der Auswanderung, die Umstände der Ankunft, die Erfolge und Misserfolge beim Aufbau der neuen Existenz. Bedauerlicherweise nehmen sie aber die Sathmarer Schwaben überhaupt nicht ins Bild. Prozesse von Akkulturation und Konsolidierung sowie der Kommunikation mit der Urheimat sind hingegen bestens nachzuvollziehen. Neben der individualgeschichtlichen Dimension tritt die Sphäre der staatlichen Politik mit ihren Verordnungen zur Verwaltung der Ansiedlungen und des Vermögens der Siedler zum Vorschein. Karl-Peter Krauss ist es somit vorzüglich gelungen, den Lesern den "gemeinen Mann" aus der sozialen Gruppe der "homo migrans" näherzubringen.

Bernadette Baumgartner