Martin T. Dinter / Charles Guérin / Marcos Martinho (eds.): Reading Roman Declamation. The Declamations Ascribed to Quintilian (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 342), Berlin: De Gruyter 2016, VIII + 312 S., ISBN 978-3-11-035240-5, EUR 109,95
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Evelyn Höbenreich / Giunio Rizzelli: Scylla. Fragmente einer juristischen Geschichte der Frauen im antiken Rom, Wien: Böhlau 2003
Neil W. Bernstein: Ethics, Identity, and Community in Later Roman Declamation, Oxford: Oxford University Press 2013
Der hier zu besprechende Sammelband geht auf eine Reihe von Vorträgen zurück, die in São Paulo, Caminas und Rio de Janeiro gehalten wurden. Die insgesamt 13 Beiträge stammen zum Teil von international führenden Experten für die römische Deklamation, zum Teil aus der Feder von Nachwuchsforscherinnen und -forschern. Die drei Herausgeber verstehen das Buch als Beitrag zur Neubewertung der römischen Deklamation (8). In der Tat hat sich hier ab den 1990er-Jahren einiges bewegt: Ging es zunächst eher um eine kultur- und sozialhistorische Funktionsbestimmung des Genres, hat sich in jüngster Zeit der Fokus mehr und mehr auf die literarischen Aspekte verschoben. Hiervon zeugt nicht zuletzt das stark gestiegene Interesse an den Declamationes maiores, die mit ihren oft überdrehten Plotlines die Nähe zum Roman verraten. Und diese "Größeren Deklamationen" stehen auch im nun vorgelegten Sammelwerk ganz im Vordergrund. Auf die ebenfalls traditionell Quintilian zugeschriebenen Declamationes minores wird nur in zwei Beiträgen der Schwerpunkt gelegt.
Die Herausgeber haben auf eine Einführung in das römische Deklamationswesen ebenso verzichtet wie auf eine detaillierte Vorstellung des behandelten Corpus. Was sie vorlegen, ist eine Sammlung in Umfang und Fragestellung recht disparater Einzelstudien. Anders formuliert: Der Band ist kaum fokussiert. Ein Gesamtbild der Quintilian zugeschriebenen Deklamationen entsteht so nicht und ist wohl auch nicht beabsichtigt. Durch die Unterteilung in vier Sektionen ("Practicing Roman Declamation - The Rhetoric of Pedagogy"; "Constructing Roman Declamation - Quintilian's Literary Technique"; "Perusing Roman Declamation - Genre and Intertext"; "Contextualising Roman Declamation - Ethics and Politics") ergibt sich allenfalls eine lockere Struktur. Leider wurde auch nicht der Versuch unternommen, eine Summe aus den Analysen zu ziehen. Recht allgemein fallen dann auch die in der Einleitung benannten Leitaspekte aus: gesucht werde nach einer Poetik der Deklamationen, anzustreben sei die Anwendung literaturwissenschaftlicher Analyseinstrumente und Theorien (2; 8). Im Folgenden werde ich die einzelnen Beiträge kurz zusammenfassen.
Anthony Corbeill vertritt anhand stilistischer und inhaltlicher Argumente die Auffassung, Decl. min. 260 stamme aus der Feder eines Schülers. Die in der Sammlung folgende Controversie sei als die Gegenrede des Rhetors zu verstehen. Diese plausible These ist besonders deswegen von Interesse, weil sich hier vom römischen Comment divergierende Standpunkte ausmachen lassen - in erster Linie Kritik an der sonst als unantastbar geltenden patria potestas und an der sozialen Praxis des Euergetismus.
Antonio Stramaglia untersucht die Declamationes maiores auf metarhetorische Passagen, die seines Erachtens auf einen schulischen Kontext hinweisen. Er folgert daraus, dass es keine strikte Trennung zwischen Schau- und Schuldeklamation gegeben habe, weder konzeptionell noch personell. Dieses Plädoyer leuchtet unmittelbar ein. Zu fragen bleibt aber, ob Metarhetorik tatsächlich stets eine didaktische Funktion haben muss - bereits Quintilian unterstreicht den Wert solcher Passagen auch in der forensischen Rhetorik (vgl. z.B. inst. 4,1,57 u. 74; 12,9,5).
Bunt gemischt fällt die zweite Sektion aus: Sylvie Franchet d'Espèrey setzt sich mit der Bedeutung und Bewertung der controversia figurata in der antiken Rhetoriktheorie auseinander. Konstitutiv gehe es hierbei um einen verborgenen Sinn, um ein Auseinandertreten von Gesagtem und Gemeintem. Quintilian ist der Autorin zufolge in der Bewertung der controversia figurata eher zurückhaltend, da er die Gefahr eines sich selbst genügenden literarischen Spiels ohne eigentliche Persuasionsabsicht sehe.
Danielle van Mal-Maeder greift die Kritik des Ennodius von Pavia an Decl. mai. 5 auf, der Deklamator habe das kulturell vorgegebene ethos der Figuren missachtet. Für Mal-Maeder aber sind diese vermeintlichen Defizite Teil der rhetorischen Strategie. Das von Ennodius benannte Problem sei mit einer Trennung in "je-déclamé" und "je-déclamant" zu lösen, also mit einer Differenzierung zwischen der textweltlichen Figur des Vaters zum Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse und dem Deklamator zum Zeitpunkt des (allerdings ebenfalls fiktiven) Prozesses.
Anhand von Decl. mai. 10 behandelt Catherine Schneider das Motiv des Sehens bzw. des Verlustes der Sehfähigkeit. Von hier aus gerät das rhetorische Mittel der phantasia in den Fokus, die sowohl intratextuell (durch die Figur des Anwalts) als auch extratextuell (durch den Deklamator) eingesetzt wird. Zudem diene die Deklamation auf einer höheren Ebene der Diskussion von Potentialen und Gefahren der Imagination.
Martin Dinter schließlich beleuchtet das Konzept der fama in den Declamationes maiores. Der Begriff kann hier sowohl das Gerücht als auch das Ansehen bezeichnen, darüber hinaus den impliziten Anspruch des Deklamators auf literarischen Ruhm als Ergebnis gelungener aemulatio kanonischer Vorbilder.
In der kurzen dritten Sektion analysieren zunächst Julien Pingoud und Alessandra Rolle am Beispiel deklamatorischer Standardfiguren wie der noverca das Phänomen der Intertextualität. Überzeugend können sie nachweisen, welch große Rolle ihm bei der Ausgestaltung der deklamatorischen Charaktere zukommt. Mit dem Gebrauch medizinischer Terminologie und der Rezeption medizinischer Theorie setzt sich sodann Giovanna Longo auseinander. Zwar bleibe die Begrifflichkeit rhetorischem Usus entsprechend eher unspezifisch, doch sei ein hohes Niveau an Vertrautheit der Deklamatoren mit den Fach-Diskursen festzustellen.
Joy Connolly eröffnet den letzten Abschnitt mit einem Beitrag zu Emotionen und Identifikationsmechanismen. Mit der Thematisierung des Leidens und der Selbstwahrnehmung als Leidende befänden sich die Deklamatoren im Trend der früh- und hochkaiserzeitlichen Literatur. Die dennoch nötige Distanz des Sprechers zu seinen Figuren werde gerade durch einen theatralischen Überschuss an Emotionen hergestellt.
Orazio Cappello legt eine tiefgehende narratologische Analyse der Decl. mai. 12 vor. Arrangiert um das Grundthema des Kannibalismus hungernder Bürger werden textuelle Mechanismen der Konstituierung von Identität und Alterität herausgearbeitet. Insgesamt verschwimmen in der Deklamation die Ebenen des fingierten Prozesses, der deklamatorischen Darbietung und der Literarisierung des Stoffes. Ethik und Ästhetik überschneiden sich.
Dem deklamatorischen Thema der Stieffamilien nähert sich Gernot Krapinger. Römisches Recht bzw. juristische Fachliteratur belegen den Realitätsbezug entsprechend angelegter Controversien.
Unter Rückgriff auf Max Weber untersucht Neil W. Bernstein den Stellenwert traditionaler Autorität in den Declamationes. Er unterstreicht dabei Parallelen zu Angriffen auf Mitglieder der sozialen Elite in den griechischen Städten der hohen Kaiserzeit. Durchgängig sei in den Deklamationen festzustellen, dass die kulturelle und politische Überlegenheit der etablierten Eliten gegen charismatische Demagogen verteidigt wird.
Im letzten Beitrag des Bandes widmet sich Pablo Schwartz dem Thema der Tyrannis und des Tyrannenmords. Dieser Deklamationstypus erlaube die Diskussion der römischen Innenpolitik in der frühen Kaiserzeit. Die Tyrannis erscheint dabei als Musterfall amoralischen Verhaltens.
Insgesamt zeichnen sich hier zwei vielversprechende Forschungsrichtungen ab: die narratologische Analyse sowie die Erforschung von Mechanismen der Intertextualität in der römischen Deklamation. Es bleibt die Frage zu stellen, ob die Entscheidung, diese Beiträge in einem eigenen Band zusammenzuführen, zweckdienlich war - oder ob nicht die gesonderte Publikation in Fachzeitschriften einzelnen Ansätzen eher gerecht worden wäre.
Christian Reitzenstein-Ronning