Rezension über:

Marc Van De Mieroop: Philosophy before the Greeks. The Pursuit of Truth in Ancient Babylonia, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2015, VIII + 297 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-15718-4, GBP 24,95
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Rezension von:
Claudia Horst
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Horst: Rezension von: Marc Van De Mieroop: Philosophy before the Greeks. The Pursuit of Truth in Ancient Babylonia, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/28355.html


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Marc Van De Mieroop: Philosophy before the Greeks

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Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge, sei es erstmals den Griechen gelungen, über die Grundlagen des Wissens nachzudenken. Diese Ansicht versucht das vorliegende Buch von Marc Van De Mieroop zu hinterfragen. Um seine These zu begründen, grenzt er sich methodisch von teleologisch argumentierenden Forschungspositionen ab, die grundsätzlich dazu führten, die babylonische Kultur als defizitär gegenüber der griechischen Klassik zu betrachten (154).

Unter Berücksichtigung poststrukturalistischer Erkenntnistheorien gelangt er zu dem Ergebnis, dass die Babylonier eine Epistemologie entwickelt haben, die vollkommen anderen Prinzipien folgt als das von der klassischen Antike ausgehende moderne wissenschaftliche Denken. Seine These belegt er anhand dreier Textkorpora, die das Studium der Sprache, die Omenliteratur und das Recht umfassen. Die Omenliteratur entstand später als die anderen Textkorpora als Reaktion auf die zahlreichen Kriege und Unruhen im 19. Jahrhundert und auf den verlorenen göttlichen Status des Königs. Das gesteigerte Interesse an der Auslegung von Omina entsprach dem Wunsch, Sicherheit gegenüber einer Zukunft zu gewinnen, die sich aufgrund gegenwärtiger Krisen als unberechenbare Größe darstellte. Vermutlich hat die Omenliteratur, die den das Universum ordnenden göttlichen Willen offenbaren sollte, die von den Königen verfassten Gesetzestexte ersetzt.

Ein gemeinsames Merkmal der einzelnen Korpora ist die Abfassung von Texten in Form von Listen. Die Liste, die ein konstitutives Merkmal der babylonischen Kultur darstellt, wurde in der Forschung immer wieder als Indiz für fehlende Wissenschaftlichkeit interpretiert. Abwertend wurde von der babylonischen Kultur als "Listenwissenschaft" gesprochen (222). Da die Liste nur horizontal durch die Anhäufung von Beispielen erweitert werden könne, folge sie eher additiven als deduktiven Strukturen. Andere Forschungsansätze haben hingegen gezeigt, dass die Funktion der Liste über die reine Form der Auflistung hinausgeht. Vielmehr stelle die Liste den Versuch dar, die bekannte Welt zu ordnen. Allerdings seien die von den Babyloniern nicht überlieferten Prinzipien dieser Ordnung bis heute schwer zugänglich. [1] An diesem Forschungsproblem knüpfen die Ausführungen von Marc Van De Mieroop an. Dabei folgt er jenen Erklärungsversuchen, die die logischen Strukturen der Listen nicht auf der inhaltlichen Ebene - der Einteilung beispielsweise in Baum- und Tierlisten -, sondern auf der semiotischen Ebene suchen.

Da jedem einzelnen Keilschriftzeichen ein Wort oder mehrere Silben entsprechen konnten, ergaben sich vielfältige Möglichkeiten, die einzelnen Silben miteinander zu kombinieren. Welche Kombinationen erlaubt waren, wurde durch den Kontext und auf der Grundlage konkreter Regeln entschieden. Die Formulierung "Wenn X, dann Y" war beispielsweise insbesondere für die divinatorischen und rechtlichen Listen ein grundlegendes Ordnungsmerkmal, das den von der römisch-griechischen Divination verwendeten Begriffen protasis und apodosis entspricht. Die Beziehungen zwischen protasis und apodosis konnten im babylonischen Schriftsystem durch Homonyme, semantische Bezüge oder Synonyme hergestellt werden (117). Ein weiteres Ordnungskriterium waren binäre Codes (gerade / ungerade, rechts / links, Frau / Mann etc.), die das Universum ebenso wie das unstrukturierte Sprechen ordnen sollten.

Da einem Zeichen mehrere Silben entsprechen konnten, war es möglich, einem Wort sogar einen vollständigen Satz zu entnehmen. Einer der fünfzig Namen, die dem Gott Marduk am Ende des Enūma Eliš zugeschrieben wurde, lautete LUGALABDUBUR. Aus den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Silben (dLUGAL.AB2.DU10.BUR3) lässt sich schließlich die folgende Zuschreibung gewinnen: "The king who thwarted the maneuvers of Tiamat uprooted her weapons whose support was firm in front and rear." (8) Wie Marc Van De Mieroop zeigt, waren die fünfzig Namen des Marduk nicht ein bloßer Appendix, der auf verschiedene Attribute des Gottes verwies. Vielmehr ergab sich aus der richtigen Lesart der Zeichen ein Wissen über die Zusammenhänge der von Marduk geschaffenen physischen Welt. Das Enūma Eliš ist also nicht nur eine Kosmogonie, sondern zugleich eine Kosmologie, die sich jedoch nur einer kleinen Elite erschloss, die die Sätze hinter den Namen Marduks entziffern konnte. Obwohl es zahlreiche Parallelen zwischen den griechischen und babylonischen Weltentstehungsepen gibt, konnten die Griechen die vom babylonischen Schriftsystem abhängigen kosmologischen Gedanken nicht übernehmen. Die Grenzen des Wissenstransfers zeigen sich insbesondere in Hinblick auf die allein durch das Schriftsystem konstituierte Epistemologie.

Für die Babylonier hatte die Schrift stets einen Vorrang vor der Realität, da Beobachtung für den Erwerb von Wissen nach ihrer Auffassung nicht ausreichend war. Wenn ein Gelehrter in die Eingeweide eines Opferlamms schaute, sah er in Wirklichkeit einen Text. Für ihn waren nur diejenigen organischen Merkmale relevant, die auch in den Omentexten Erwähnung fanden. Nur über die Schrift war es möglich, sich der Welt und seiner selbst zu vergewissern. "'I read, therefore I am' could be seen as the first principle of Babylonian epistemology." (10) Auch hierin unterschieden sich die Babylonier von den Griechen. Während sich in Babylonien eine Schriftkultur entwickelt habe, habe sich die Schrift aus griechischer Perspektive als ein "dead end" (11) dargestellt, da man das geschriebene Wort eher als Erinnerungshilfe denn als Grundlage der Wahrheitssuche betrachtet habe. [2] Es wäre lohnend, diese Ausführungen, die in Hinblick auf die griechische Kultur recht knapp bleiben, durch weitere Arbeiten zu untersuchen.

Da im alten Mesopotamien Texte durch neue Interpretationen und Hinzufügungen stets verändert werden konnten, gab es nicht die moderne Vorstellung von einem Autor, der als Urheber der Texte betrachtet wurde. Die Babylonier hätten vielleicht nicht vom "Tod des Autors" gesprochen, aber die von Michel Foucault geprägte Vorstellung von der "Autor-Funktion" aufgenommen, die die verschiedenen Schreiber an den Texten jeweils übernommen haben (20/25). Die geringe Aufmerksamkeit, die dem ersten Verfasser zuteilwurde, erklärt, weshalb wir aus Mesopotamien keine vergleichbaren Personen wie Thales oder Konfuzius kennen (196).

In der immer vorhandenen Möglichkeit der Erweiterung oder Interpretation von Texten sieht Marc Van De Mieroop ein grundlegendes Merkmal der babylonischen Epistemologie, die dem postmodernen näher als dem modernen Denken zu stehen scheint. Er erläutert dies anhand des Begriffes "rhizome", den die französischen Philosophen Deleuze und Guattari verwendeten, um zu zeigen, dass der Erwerb von Wissen nicht notwendigerweise dem Prinzip der Deduktion folgt, sondern eher vergleichbar ist mit den Wurzeln jener Pflanzen, die horizontal wachsen und sich nahezu unbegrenzt ausbreiten können. "It has no core, no dialectics, no hierarchy, but each point is connected to all others and is equally important." (223) Auch diese Ausführungen, die die universelle Geltung moderner Wissenschaftsprinzipien in Frage stellen, bieten genügend Anreize für weitere Studien.

Marc Van De Mieroop gelingt es, zu zeigen, dass sich die Grundlagen der Philosophie lange vor der Zeit der griechischen Klassik entwickelt haben. Da das Buch auf einführenden Ausführungen zur Geschichte Mesopotamiens und zur akkadischen Sprache aufbaut, ist es nicht auf den Leserkreis der Altorientalistinnen und Altorientalisten beschränkt und leistet einen entscheidenden Beitrag zur Kommunikation zwischen den altertumswissenschaftlichen Disziplinen.


Anmerkungen:

[1] Sebastian Fink: Benjamin Whorf, Die Sumerer und der Einfluss der Sprache auf das Denken (= Philippika. Altertumswissenschaftliche Abhandlungen; Bd. 70), Wiesbaden 2015, 129; Dietz Otto Edzard: Die altmesopotamischen lexikalischen Listen - verkannte Kunstwerke?, in: Das geistige Erfassen der Welt im Alten Orient, hg. v. Claus Wilcke, Wiesbaden 2007, 17-26, 17ff.; Eva Cancik-Kirschbaum: Gegenstand und Methode. Sprachliche Erkenntnistechniken in der keilschriftlichen Überlieferung Mesopotamiens, in: Writings of Early Scholars in the Ancient Near East, Egypt, Rome, and Greece. Translating Ancient Scientific Texts (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 286), ed. by Annette Imhausen / Tanja Pommering, Berlin / New York 2010, 13-46.

[2] Plat. Phaidr. 275c-276a.

Claudia Horst