Rezension über:

Joanna Bellis: The Hundred Years War in Literature. 1337-1600, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2016, XII + 300 S., ISBN 978-1-84384-428-0, GBP 60,00
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Rezension von:
Heribert Müller
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Heribert Müller: Rezension von: Joanna Bellis: The Hundred Years War in Literature. 1337-1600, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/28931.html


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Joanna Bellis: The Hundred Years War in Literature

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Historiker sollten genau auf das "in Literature" im Titel achten. Es handelt sich um eine rein literaturwissenschaftliche Studie, die dem Hundertjährigen Krieg als solchem keine Aufmerksamkeit schenkt; da bleibt es beim Hinweis auf gerade einmal drei englische Titel hierzu (5, Anm. 14). Im Zentrum steht vielmehr die sehr spezifische Art und Weise, in der dieser Krieg in englischen Schriftzeugnissen des 14. bis 16. Jahrhunderts vom Brut Chronicle bis zu Shakespeare seinen Niederschlag fand. Und dies sehr Spezifische enthebt Verfasserin auch des - eigentlich nahe liegenden - Vergleichs mit französischen Autoren der Zeit wie etwa Monstrelet, Pintoin oder Christine de Pizan (51, Anm. 1). Ausführlich setzt sie sich mit der angelsächsischen Forschung zum Thema auseinander, indes allein mit dieser (selbst Nietzsche und Adorno werden nach englischen Ausgaben zitiert). So ist man geneigt, das Buch als wenig relevant beiseite zu legen, um allenfalls die wiederholte Erwähnung von Zynismus und Pizzen in der Danksagung als Ausweis englischer Spleenigkeit zu goutieren. Doch sollte man es dabei keinesfalls belassen, sondern sich mit Bellis einfach auf deren ganz eigenen Weg begeben, ohne an jeder Station Mehr- und Besserwisserpflöcke einschlagen zu wollen in Form von Hinweisen auf all die ignorierten einschlägigen Arbeiten - etwa zur spätmittelalterlichen Chronistik - außerhalb des angelsächsischen Orbit. Auf ihrem Weg bleibt sie konsequent auf ein Thema fokussiert: den Zusammenhang von Krieg, Nation, Sprache und die sich darob manifestierende Macht der Instrumentalisierung und Manipulation, der Politik und Propaganda. Der Krieg (auch) ein Sprachkrieg; in Vielem stellt sich die englische Situation gewiss als spezifisch dar und ist nicht übertragbar, allein die grundlegenden Wirkkräfte sind es, über die Zeiten hinweg, sehr wohl.

Spezifisch war schon die Ausgangslage seit der normannischen Eroberung 1066: Mit ihr hielt Französisch bzw. der anglonormannische Dialekt des Französischen Einzug, und damit wurde die einheimische Sprache von den neuen Herren "überschrieben" ("'overwriting', an act of linguistic violence", 13). Die englische Geschichtsschreibung thematisierte seit dem späteren 13. Jahrhundert solch linguistische Invasion und formte daran "the crucial pre-narrative to the Hundred Years War" (19). Man wandte sich gegen den Primat einer Sprache, den Hof, Justiz, Eliten und Hochliteratur vorgaben, und sah mit Ausbruch des großen Kriegs folglich nicht nur das eigene Land, sondern auch dessen Sprache weiterer Gefahr ausgesetzt. Gegen die Sprachtyrannei wurde das "Inglische" als Nationalsprache proklamiert, was nun keineswegs den kulturell-gesellschaftlichen Realitäten, sehr wohl aber einer politischen Agenda entsprach, zu der man auch jenes "Statute of Pleading" (1362) zählen mag, das Englisch als Gerichtssprache verfügte: "The nationalism of the Hundred Years War was not a surge of popular vernacular patriotism, but a calculated, self-conscious political effort on the part of those attempting to define 'us' against 'them'" (50). Die englischen Chroniken der Kriegszeit wie auch die - oft darin inserierte - Poesie konstruieren eine in der Sprache ruhende nationale Identität, indem sie 'symple Inglish' mit 'strange Inglish' bzw. 'fals French' kontrastieren, tun dies aber wohlgemerkt in einer Sprache, die mit Lehnwörtern aus der des Gegners durchsetzt ist: Sie fordern die Verwendung der Muttersprache und bezeichnen eben diese als "our dames tongue" (Thomas Usk; 71). Noch größer wird die Ironie, so Bellis, wenn dann dieselben Chronisten das Recht ihres Königs auf die französische Krone mit dessen noch die Valois übertreffender Nähe zu den Kapetingern begründen: Da musste Edward III. auf einmal Franzose sein. Und als dem Vertrag von Troyes (1420) entsprechend Heinrich V. König von England und Frankreich wurde - diesen Titel sollten die englischen Herrscher bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts beibehalten -, hieß es für Poeten wie John Lyndgate, flugs die Union zu feiern oder, in literaturwissenschaftlicher Terminologie, die Transformierung der Alterität zur Affinität (142). Vor Vereinfachung sei indes gewarnt: Es gab durchaus unabhängige Köpfe wie den als Poet des "oure englische" gefeierten Chaucer, der seine Sprache indes von ganz eigener, geradezu kosmopolitischer und d. h. auch: lehnwortreicher Warte aus adelte, oder jenen John Page, der im "Siege of Rouen" Patriotismus mit Empathie für die Opfer der Greuel des Kriegs verband. Doch besagter Sprache-Nation-Mainstream setzte sich, sogar noch verstärkt, bruchlos ins 16. Jahrhundert fort, zumal Heinrich VIII. nicht weniger als drei Kriege gegen ein Frankreich führte, das obendrein bald auch als religiöse Bedrohung empfunden wurde, wobei man - wie John Stubbes - die Katholiken als umstürzlerische Neuerer brandmarkte. Und die Oktroyierung fremder Sprache wurde nicht mehr nur als Konsequenz, sondern als Wesensmerkmal effizienter Eroberung dargestellt, oder frei nach dem Pädagogen Richard Mulcaster (1582): "It was language itself [...] that exercised the will to power and the privilege of 'command'" (173) - was die Engländer bei Eroberungen ihrerseits durchaus beherzigten. Der stete Kampf gegen Frankreich warf lange, übermächtige Schatten, der Gegner wurde zum Erz- und Erbfeind, und in solchem Kontext "linguistic antagonism became an integral part of English identity" (180). In diesem Rahmen ist auch die damalige "inkhorn controversy" über den Einfluss fremder Sprache auf das Englische zu situieren, die noch bei Shakespeare als Synonym für "linguistic civil war" (229) begegnet. Seine von den englischen Herrschern des Hundertjährigen Kriegs handelnden Königsdramen stehen, schon von ihrer Thematik und mit ihrer propagandistischen Übertragung von Taten in Worte, zwar in alter Tradition, doch bewahren und wiederbeleben sie nicht nur Geschichte, sondern ihnen eignet - wie bei Chaucer - ein Proprium, da hier Historie auf der Bühne nach Mimesis-Gesetzen neu erschaffen wird.

Der Arbeit will man Konsequenz und Stringenz nicht absprechen, allein ungeachtet aller unstrittigen Interessenpolitik und Manipulation in Sachen Sprache dürfte grundsätzlich feststehen, dass schlicht das Faktum eines Kriegs von eben mehr als hundertjähriger Dauer jenseits aller Propaganda England englischer (und Frankreich französischer) werden ließ. Dem Konzilshistoriker sei abschließend der - Bellis bestätigende - Hinweis auf eine zwischen Engländern und Franzosen 1416/17 auf dem Konstanzer Konzil ausgefochtene Kontroverse erlaubt. Dabei ging es zwar zuvörderst um den Status der englischen Konzilsnation - Konzilsnationen waren bekanntlich weitaus umfassender als die unserem Nationsverständnis näheren Partikularnationen -, doch lässt sich dabei schon der konkurrierende Ranganspruch der in ihren jeweiligen Konzilsnationen führenden Königreiche England und Frankreich erkennen. Die englischen Interessen vertrat der Dekan Thomas Polton von York mit einer Argumentation, die u. a. - als Ausweis des auf allen Gebieten herausgestellten Reichtums der großen Zahl - auf fünf in der Konzilsnation heimische Sprachen als Superioritätsmerkmal abhebt, unter denen aber der englischen Vorrang gebührt: "natio Anglicana habet pro majori parte unam linguam vulgariter intelligibilem, in toto saltem vel in parte nationis omnem per circuitum". [1] Die englische Sprache in Zeiten des Hundertjährigen Kriegs: einmal vorrangig und führend, dann wieder in ihrer Existenz bedroht, gerade wie es eben die politische Opportunität gebietet.


Anmerkung:

[1] Domenico Mansi: Amplissima Collectio, Bd. XXVII, 1066; cf. S. Vallery-Radot: Les Français au concile de Constance (1414-1418). Entre resolution du schisme et construction d'une identité nationale, Turnhout 2016, 393ff.

Heribert Müller