Florian Greiner: Wege nach Europa. Deutung eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien 1914-1945 (= Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert; Bd. 1), Göttingen: Wallstein 2014, 520 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1502-0, EUR 49,90
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Zu Beginn seiner Studie stellt Florian Greiner eine vermeintlich unscheinbare Frage: "Was ist eigentlich 'Europa'?". Dass er am Ende der folgenden knapp 500 Seiten die Antwort schuldig bleiben muss, ist zwangsläufig, denn er versteht Europa nicht als etwas "objektiv Feststellbares" (15), sondern als einen "primär durch Semantiken und Diskurse konstruierten Raum" (19). Dementsprechend zeichnet er nicht realpolitische Entwicklungen und europapolitische Ansätze der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach, sondern analysiert den printmedialen Europa-Diskurs auf der Basis von Qualitätszeitungen aus den USA, Großbritannien und Deutschland und konzentriert sich dabei auf die "Perzeptionen, Rezeptionen, Imaginationen und Konstruktionen" (7) von Europa und Europäizität. Die aus dieser Perspektive gewonnenen Erkenntnisse machen Greiners ursprünglich an der Universität Potsdam als Dissertation verfasste Studie zu einem wichtigen und lesenswerten Buch.
Im ersten Kapitel, das die zentralen Knotenpunkte der diskursiven Konstruktion Europas zwischen 1914 und 1945 chronologisch herausarbeitet, kann Greiner mit seiner Herangehensweise zeigen, dass Europa in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt der Zeitgenossen weit mehr war als ein Ort der Krise. Einerseits bestätigt seine Untersuchung zwar, dass Europa oft als von wirtschaftlichen Problemen gebeutelt, als politisch zerrissen und als militärischer Konfliktherd wahrgenommen wurde. Nicht zuletzt aus diesen Deutungsmustern bezogen die während des Zweiten Weltkrieges als notwendige Rettung Europas inszenierten Versprechen einer neuen, besseren europäischen Ordnung ihre Wirkmacht. Doch andererseits erweitert Greiner dieses Krisennarrativ, das in der bisherigen Forschung im Vordergrund steht, um die zeitgenössisch mitschwingenden Hoffnungen. Denn Europa war durchweg auch positiv konnotiert. Das belegen nicht nur die Bemühungen der jeweiligen Kriegsparteien während der beiden Weltkriege, Europa für sich zu vereinnahmen, sondern auch die europäischen Lösungsansätze für die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Kontinents, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts denk- und sagbar waren. Europa markierte demnach "gleichermaßen den Ort der Krise" wie es auch "ein Moment der Hoffnung" darstellte (220).
Die beiden folgenden Kapitel sind nicht mehr diachron organisiert, sondern widmen sich synchron zwei konstitutiven Elementen der Europäisierung von Wahrnehmungsmustern. Zum einen zeigt Greiner, dass die Konstruktion einer europäischen Identität über Abgrenzung funktioniert(e). Insbesondere im Sprechen über die USA und im Kolonialdiskurs wurde - meist festgemacht an Alltäglichkeiten wie Kleidungsstil, Essgewohnheiten oder Architektur - eine Lesart festgeschrieben, in der Europa als homogene Einheit erschien. Die Ausgrenzung des "Anderen" formte die Vorstellung eines europäischen Kollektivs, wirkte also identitätsstiftend. Zum anderen verdeutlicht die Studie, wie der Prozess der Moderne die Vorstellung von Europa als Einheit verfestigte: Schnellere Verkehrsverbindungen und der Ausbau der Telekommunikation schufen einen gemeinsamen europäischen Kommunikationsraum und ließen die Bedeutung von nationalstaatlichen Grenzen - wenn auch zumeist nur in den Köpfen - schwinden. Zudem boten die Internationalisierung des Sports sowie das Aufkommen des Tourismus konkrete Berührungspunkte, schufen soziale sowie kulturelle Gemeinsamkeiten und etablierten Europa als vorherrschenden Referenzrahmen. Europa war demnach für die Zeitgenossen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihrer Alltagswahrnehmung und Weltdeutung eine durchaus geläufige Vorstellung und Bezugsgröße.
Greiners Argumentation ist schlüssig, gut belegt und überzeugend. Allerdings bleiben an den Rändern des roten Fadens, der sich durch die Arbeit zieht, einige Unschärfen und Leerstellen. Wenn er etwa im Kapitel zur Zwischenkriegszeit feststellt, dass der Gedanke einer europäischen Selbstbehauptung gegen "einen asiatisch konnotierten Bolschewismus [...] nahezu omnipräsent" (92) war, ist es verwunderlich, warum die antikommunistische Stoßrichtung des Diskurses in der Analyse der Identitäts- und Alteritätskonstruktionen keine Rolle spielt. Ebenso hätte man sich angesichts der Ausgangslage - der Suche nach Europa inmitten einer Zeit, für die ein Großteil der Forschung kein Europa jenseits des Nationalismus erkennt [1] - gewünscht, dass das Verhältnis zwischen Nation und Europa, vielleicht mit Rückgriff auf die geopolitischen Vorstellungen der Zeit [2], noch eingehender bestimmt wird. Und schließlich ist es bedauerlich, dass Greiner den eigenen Anspruch, auch die "'dunkle Seite' des europäischen Denkens" (19) zu berücksichtigen, nicht ganz konsequent einlöst. Zwar räumt das chronologisch aufgebaute erste Kapitel den nationalsozialistischen Neuordnungsplanungen breiten Raum ein, und die beiden synchronen Abschnitte berücksichtigen Zeitungsartikel, die im nationalsozialistischen Deutschland publiziert wurden. Doch resultiert aus der Auswahl der Tageszeitungen (The New York Times, Chicago Tribune, The Times, The Manchester Guardian, Kölnische Zeitung, Vossische Zeitung, ab 1934 Frankfurter Zeitung) bereits eine deutliche Betonung von (national)liberal-demokratischen Europawahrnehmungen und -darstellungen. All diese Punkte mögen kritikwürdig sein, sie sind aber zu entschuldigen. Einer ohnehin umfangreichen Arbeit, deren dichte Analyse auf der Auswertung von "mehreren zehntausend Zeitungsartikeln" (39) fußt, vorzuwerfen sie hätte ihren thematischen Zuschnitt ausweiten sollen, wäre vermessen. In diesem Sinne sollten die genannten Aspekte weniger als Kritik verstanden, sondern als Belege dafür gelesen werden, dass Greiners Studie zu weiterführenden Fragen anregt.
Insgesamt hat Florian Greiner mit "Wege nach Europa" ein Buch vorgelegt, an dem kein Weg vorbeiführt, wenn man sich für die zuletzt häufig eingeforderte konstruktivistische Perspektive auf die Vorgeschichte der europäischen Nachkriegsintegration interessiert. [3] Der teleologischen Lesart einer europäischen Idee, die sich nach und nach im europäischen Einigungsprozess durchgesetzt habe, stellt Greiner eine Studie entgegen, die sich den zahlreichen und vielfältigen Europavorstellungen und -wahrnehmungen widmet, die bislang im historiographischen Schatten von Graf Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Union und dem Briand-Plan standen. Aus der nachgewiesenen Differenz zwischen dem "gedachten" und dem "gelebten" Europa beziehen diese Perspektive und Greiners Befund einer "europäische[n] Grundierung der alltäglichen Lebenswelt" (467) während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Relevanz.
Anmerkungen:
[1] Z.B. Peter Bugge: The Nation Supreme. The Idea of Europe 1914-1945, in: The History of the Idea of Europe, hg. von Kevin Wilson / Jan van der Dussen, London 1993, 83-149, hier 143; Guido Müller: Jenseits des Nationalismus? "Europa" als Konzept grenzübergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen, in: Adel und Bürgertum in Deutschland II - Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, hg. von Heinz Reif, Berlin 2001, 235-268, hier 235.
[2] Laut Reuber wurde der "geopolitische Diskurs in Deutschland zu einer hegemonialen Leitfigur". Paul Reuber: Politische Geographie, Paderborn 2012, 83.
[3] Z.B. Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung, München 2005, 4; Christian Bailey: Between Yesterday and Tomorrow. German Visions of Europe, 1926-1950, New York 2013, 198.
Raimund Bauer