Mark Hengerer (Hg.): Abwesenheit beobachten. Zu Kommunikation auf Distanz in der Frühen Neuzeit (= Vita curialis. Form und Wandel höfischer Herrschaft; Bd. 4), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 188 S., ISBN 978-3-643-90386-0, EUR 19,90
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Mark Hengerer: Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Mikrogeschichte der Macht in der Vormoderne, Konstanz: UVK 2004
Mark Hengerer (Hg.): Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Mark Hengerer: Kaiser Ferdinand III. (1608-1657). Eine Biographie, Wien: Böhlau 2012
Der Band behandelt das Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit in der Vormoderne und geht vor allem der Frage nach, welche Konsequenzen sich in den verschiedenen Bereichen von Staat und Gesellschaft aus Abwesenheit ergaben und wie bei "Absentismus" Kommunikation organisiert und realisiert wurde. Hierfür werden bereits eingangs die Stellvertreterregelung in der französischen Kriegsmarine des 18. Jahrhunderts mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen sowie das Hofzeremoniell der Frühen Neuzeit angeführt, demzufolge sich die Höflinge mitunter auch bei Abwesenheit des Fürsten so verhielten, als sei dieser präsent. Der leere Thron oder ein Porträt des abwesenden Fürsten habe geholfen, die "Orientierung an einer Regel als Orientierung an einer Gegebenheit zu kleiden." (9)
Die Grundlage für die Aufsatzsammlung bot eine interdisziplinäre Tagung, die im Juli 2007 vom Konstanzer Sonderforschungsbereich 485 "Norm und Symbol - die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration" organisiert wurde. Wie in einem solchen Band üblich, führt der Herausgeber in die Thematik ein, leitet aus historischen Befunden Problemstellungen ab und versucht die Einzelbeiträge in Hinblick auf die Metaebene einzuordnen und zu kommentieren. Es soll gezeigt werden, dass bereits in der Frühen Neuzeit das, was uns heute angesichts eines vielfältigen Medienangebots selbstverständlich ist, nämlich Kommunikation auch unter Abwesenden, eine Rolle spielte. Zwar wird die Frühe Neuzeit in der Regel als "Anwesenheitsgesellschaft" charakterisiert, doch beanspruchte gleichwohl Absenz - etwa bei höfischen Zeremonien - oftmals ein besonderes Interesse. Deshalb schien es angezeigt, so Mark Hengerer, "die Aufmerksamkeit der historischen Forschung auf das bislang vornehmlich in der Literatur-, Medien- und Kunstwissenschaft sowie der Theologie thematisierte Problem Abwesenheit zu lenken" (11).
In den durchweg anregenden Einzelbeiträgen spielt erwartungsgemäß das "Distanzmedium" Brief eine besondere Rolle. Dies gilt beispielsweise für die Aufsätze von Heiko Droste "Zu den Barrieren höfischer Kommunikation im Brief", Britta Kägler über "Die Korrespondenz zwischen Kurfürstin Henriette Adelaide von Bayern und ihrer Turiner Verwandtschaft (1652-1676)" oder auch Alexander Pyrges über "Virtuelle Dialoge und vernetzte Korrespondenzen. Protestantische Vergesellschaftung in der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts". Ähnliches ist für den Beitrag von André Krischer über die "Zeremonialschreiben in den reichsstädtischen Außenbeziehungen" zu konstatieren, wobei diese reichhaltig überlieferten Briefe vor allem der Übermittlung von Grußbotschaften an adlige und fürstliche Standespersonen dienten und sich für die heutige Forschung insbesondere als Quellen für die symbolische Kommunikationsforschung, aber auch als Medien höfischer Öffentlichkeit erweisen. Dem "Porträt in der Frühneuzeit zwischen Repräsentation und Realpräsenz" ist der sehr anregende Beitrag von Philipp Zitzlsperger gewidmet, der an einer Reihe von Herrscherporträts deren Funktion als "Distanzmedium" zeigt, das in besonderer Weise geeignet war, "Kommunikationsbrücken zu bauen". Zitzlsperger formuliert die These, dass Porträts von Vertretern der Eliten "Präsenz statt Repräsentation herzustellen in der Lage waren", zeigt ihre typengeschichtliche Nähe zu den Heiligenporträts und wirft die Forschungsfrage nach "stellvertretenden Präsenzstrategien im Porträt" auf (42).
Auch in den weiteren Aufsätzen werden Phänomene untersucht, die - real oder symbolisch - für Abwesenheit oder Anwesenheit stehen. Gabriela Signora beschäftigt sich mit der korrekten Anrede des Herrschers. Dabei fragt sie insbesondere nach den Vorstellungen, die mittelalterliche Gesellschaften mit der Gepflogenheit in Verbindung brachten, den Herrscher in der zweiten Person Plural anzusprechen. An mehreren Beispielen wird der reale und symbolische Gehalt dieser Konvention erörtert und sodann mit dem Vorschlag des Enea Silvio Piccolomini konfrontiert, der im 15. Jahrhundert dafür plädierte, den Herrscher zu duzen. Maria Stuiber schließlich zeigt anhand der familiären, dienstlichen und gelehrten Korrespondenz des Kardinals Stefano Borgia (1731-1804), welche Bedeutung die Elemente Anrede und Gruß in den Briefen besaßen und wie sich mit entsprechenden Grußformeln sowohl Nähe als auch Distanz herstellen ließ.
Insgesamt geht es in dem Band um die Dimensionen und Besonderheiten von Kommunikation im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Anwesenheit, Abwesenheit und Distanz sind jene Kriterien, zwischen denen reale und symbolische Kommunikation verhandelt wird. Das Buch ordnet sich der neueren kommunikationswissenschaftlich bzw. kommunikationstheoretisch orientierten Kulturwissenschaft zu und generiert seinen Nutzen aus einem explizit formulierten Theorieangebot des Herausgebers und den acht Fallstudien. Dabei werden in den Beiträgen die Phänomene von Anwesenheit und Abwesenheit mitunter eher implizit thematisiert, was allerdings - wie so häufig bei neueren Theorieangeboten - auf der Grundlage des empirischen Materials weniger ambitioniert erfolgt als in der Einleitung des Herausgebers. Diese wiederum bilanziert nicht nur die Erträge der Tagung und des Bandes, sondern fixiert zur Dichotomie von Abwesenheit und Anwesenheit auch Perspektiven zu Funktionssystemen, Erfolgsmedien und zu Kommunikation produzierenden Organisationen, "die von den sozialen Mechanismen tatsächlicher Anwesenheit zumindest ein Stück weit entkoppelt sind" (24). Die wissenschaftliche Botschaft des anregenden und materialreichen Bandes hätte allerdings insbesondere in der Einleitung eine weniger bedeutungsschwangere Sprache verdient. Theoretischer Anspruch spiegelt sich nicht in der Anzahl verwendeter Fremdwörter wider, die zudem zu sprachlicher Redundanz verleiten, sondern in der Prägnanz des Gedankens und der Überzeugungskraft der Argumente. Beides lässt sich, wenn es Substanz hat, oft erstaunlich klar und einfach formulieren.
Werner Greiling