Daniel Schmidt / Michael Sturm / Massimiliano Livi (Hgg.): Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1918 und 1933 (= Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte - Beiträge; Bd. 19), Essen: Klartext 2015, 290 S., ISBN 978-3-8375-1303-5, EUR 19,95
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Der Sammelband "Wegbereiter des Nationalsozialismus" entstand in Folge einer Tagung des Instituts für Stadtgeschichte in Gelsenkirchen, des Exzellenzclusters Religion und Politik der Westfälischen Wilhelms-Universität und des Geschichtsortes Villa ten Hompel Münster im Herbst 2013. Er umfasst einige erweiterte Tagungsbeiträge, "in denen sich [...] das gewachsene Interesse an einem biographischen bzw. kollektivbiographischen Zugang spiegelt"; damit reiht er sich in neuere Forschungen mit (kollektiv-) biografischen Ansätzen zur NS-Täterforschung ein (7-8).
Die Herausgeber verweisen zudem auf die nach wie vor hohe Relevanz von sozial- bzw. organisationsgeschichtlichen Ansätzen (8). Mit dem Blick auf "Wegbereiter" soll ein solcher Ansatz geboten werden, der sich aber nicht als "ein übergreifendes Deutungsraster" versteht. Ebenso wenig könne damit das gesamte rechte Spektrum zwischen den Weltkriegen abgebildet werden (8).
Inhaltlich gliedern sich die zwölf Aufsätze in die vier Kategorien "Völkische Formation", "Paramilitärische Wurzeln", "Regionale Netzwerke" und "Wegbereiterinnen". Die Herausgeber sehen als verbindendes Element aller im Sammelband thematisierten Personen, Organisationen und Netzwerke deren "fundamentaloppositionelle Haltung zur Weimarer Demokratie und den universalistischen Postulaten der Aufklärung und der Französischen Revolution" (8). Weil sie versuchten "die demokratischen Kulturen in Deutschland - und auch in Österreich - zu unterminieren" (8), seien sie als "Wegbereiter" des Nationalsozialismus zu betrachten (9). Die Aufsätze des Sammelbandes befassen sich sowohl mit Personen, Organisationen und Netzwerken, die in Facetten schon weitreichender erforscht wurden, hier sei beispielsweise die Studie Stefan Breuers zur völkischen Bewegung genannt [1]; sie nehmen aber auch solche in den Blickpunkt, die bisher weniger beachtet wurden. So befasst sich der Beitrag Alexandra Esches in der Kategorie "Völkische Formation" mit Max Robert Gerstenhauer, einem thüringischen Landespolitiker, der bisher in der Forschung nur punktuell berücksichtigt wurde. Gerstenhauer, so Esche, stehe für "die ideologischen und personellen Überschneidungen der Völkischen und Nationalsozialisten" (37). Stationen im Alldeutschen Verband, beim Deutschbund und als Abgeordneter der DNVP und später der Wirtschaftspartei im thüringischen Landtag hätten dazu beigetragen, dass er zu einem "maßgeblichen Protagonisten des organisierten völkischen Milieus" (11) in der Zwischenkriegszeit wurde und sich letztlich auch der NSDAP zusehends annäherte. Zwei maßgebliche Aspekte begründeten die Rolle Gerstenhauers als "Wegbereiter" des Nationalsozialismus: Durch seine Tätigkeit beim Deutschbund habe er als Vermittler zwischen den völkischen Deutschbund-Mitgliedern und der NSDAP gewirkt und auf dem Gebiet der "Rassenhygiene" geistige Vorarbeit für die spätere NS-Rassenpolitik geleistet (40).
In der Kategorie "Paramilitärische Wurzeln" nimmt Alexander Graf Studentenverbindungen in den Blick. Graf zeigt, wie sich auch Studentenverbindungen radikalisierten: Einige ihrer Mitglieder waren in verschiedenen Freikorps aktiv. Außerdem habe ein demokratiefeindliches und antisemitisches Klima in einer Vielzahl der Verbindungen den Nährboden für die Monopolisierungsbestrebungen des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) gebildet (92-93). Der Erfolg des NSDStB in der Studentenschaft sei weniger quantitativer Natur gewesen, sondern habe vielmehr an seinem Wähler- und Aktivierungspotential bei (Hochschul-)Wahlen gelegen. Graf arbeitet Doppelmitgliedschaften als ein wichtiges Instrument heraus, mittels dessen der NSDStB Fuß in anderen Verbindungen fassen und diese unterwandern konnte (97-98). Deutlich wird im Beitrag, dass die bereits radikalisierten Verbindungen "ein wichtiger Faktor als Wählerreservoir und Bündnispartner" (89) für die NSDAP waren.
Brigitte Zuber geht auf ein regionales Netzwerk als "Wegbereiter" ein. Anhand des Fallbeispiels München zeigt sie ein Netzwerk von antidemokratischen, antisozialistischen und antisemitischen Eliten aus Kirche, Politik, Wirtschaft, Publizistik, Kultur und Einwohnerwehren auf. Der bayerische Ableger der Deutschen Vaterlandspartei sei ab 1916 zu einem temporären Sammelpunkt für Teile dieser Eliten (145) und Ausgangspunkt für eine weitere organisatorische Ausbreitung im rechten Spektrum geworden (146). Zuber spricht hier von "potente[n] integrale[n] Handlungsketten" (147), die aus der Vaterlandspartei resultierten. Sie macht in ihrem Beitrag deutlich, wie hierdurch vor allem "von oben" dem Nationalsozialismus der Weg geebnet wurde.
Der vierte Abschnitt des Sammelbandes befasst sich explizit mit Frauen als "Wegbereiterinnen" des Nationalsozialismus. Annika Spilker verdeutlicht, wie einflussreich Mathilde Ludendorff für die Implementierung von Belangen der Gleichstellung von Mann und Frau im völkischen Tannenbergbund war (228ff.). Sie könne als Milieuöffnerin begriffen werden, da sie durch die Verbindung eines antidemokratischen, antisemitischen und rassistischen Weltbildes mit einem "völkischen Feminismus" (15) verstärkt Frauen in den Bund integriert habe. Trotz teils gegensätzlicher Einstellungen Mathilde Ludendorffs zur NS-Frauenpolitik - so propagierte Ludendorff eine aktive Rolle von Frauen im politisch-öffentlichen Raum -, sei sie dennoch auch als "Wegbereiterin" des Nationalsozialismus zu begreifen (223/234).
Der Begriff des "Wegbereiters" dient als analytische Sonde des Sammelbandes. Zugleich verweisen die Herausgeber darauf, dass es sich bei der extremen Rechten in der Zwischenkriegszeit um ein sehr heterogenes Spektrum handelt, eine Konkretisierung in den Einzelstudien sei deshalb notwendig (9-10). So sprechen die Verfasser von "Sozialisationsagenturen" (35), "Vor- und Mitarbeit [...] an den Verbrechen des Nationalsozialismus" (53), "spritus rector" (191), "Wegbegleiter", "Bündnispartner", "Radikalisierungsagentur" (69), "Personallieferant" (122) und "ideologischer Wegbereiter" (125) um Ausschnitte aus dem breiten Spektrum von Protagonisten, Organisationen und Netzwerken zu benennen. Deutlich wird auch, dass die "Wegbereiter" nicht allein isoliert in den Kategorien "völkisch", "paramilitärisch", "regional" und "Frauen" gesehen werden, sondern dass diese vielmehr in einem Netz mit verschiedenen Querverbindungen verwoben waren. Damit regt der Sammelband zu synthetisierenden Betrachtungen an. In den Beiträgen wird ersichtlich, dass die vorgestellten "Wegbereiter" in ihrer Entwicklung und ihrem Handeln oftmals auch in einem zyklischen Verhältnis von Anziehung und Distanz zur NSDAP standen. Beeinflusst wurde dieses Verhältnis unter anderem durch den Bedeutungsverlust einzelner Akteure für die NSDAP und durch divergierende Meinungen und Richtungsentscheidungen zwischen den Akteuren und der Partei.
Insgesamt bieten sich gute Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen zu verbindenden Elementen der Akteure und Organisationen. Nicht nur dafür plädieren die Herausgeber, sondern auch für die Ausweitung der Forschungen zu Handlungspraktiken und Lebenswelten eines weiterreichenden Spektrums von "Wegbereitern" (16-17). Mit diesem Sammelband werden dazu prägnante Impulse gegeben.
Anmerkung:
[1] Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008.
Astrid Bösl