Adam Jones: Afrika bis 1850 (= Neue Fischer Weltgeschichte; Bd. 19), Frankfurt a.M.: S. Fischer 2016, 463 S., 31 s/w-Abb., ISBN 978-3-10-010839-5, EUR 26,99
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Afrika ist kein geschichtsloser Kontinent: Dem Vorurteil begegnet Adam Jones, Professor für Geschichte und Kultur in Afrika an der Universität Leipzig, gleich mit einundzwanzig "historischen Persönlichkeiten" (16). Doch die Neue Fischer Weltgeschichte soll wie das Vorgängerprojekt der 1960er Jahre nicht Taten 'großer Männer' darstellen. Sie präsentiert Geschichte "von Räumen und der Wechselwirkungen zwischen ihnen." (5) Die Herausgeber Jörg Fisch, Wilfried Nippel und Wolfgang Schwentker fordern aus globaler Perspektive einen Verzicht auf einheitliche Fortschrittserzählungen. Jones' Band zur vorkolonialen Geschichte Afrikas löst dies überzeugend ein.
Der Autor hinterfragt den Topos von der Überlegenheit staatlich organisierter Gesellschaften - ob in euro- oder afrozentrischer Ausprägung. Er warnt vor Fortschrittsmodellen, die andere soziale Organisationsformen herabwürdigen: Wenn z.B. Wildbeutergruppen, sesshafte Nahrungsproduzenten und metallverarbeitende Gesellschaften nebeneinander existieren, helfe es wenig, sie am Maßstab der (euro-amerikanischen) Moderne als rückständig oder fortschrittlich einzustufen. Stattdessen wirbt Jones dafür, in kultureller Vielfalt funktionale Anpassungen an ökologische Gegebenheiten zu erkennen.
Vor 1850 lebte die Mehrheit der Menschen in Afrika in "dezentral organisierte[n] Gesellschaften" (107) - so Jones' Alternative für Mängelbezeichnungen wie "'staatenlos' oder 'akephal' (kopflos)" (108). Häufig fehlen hierzu schriftliche Quellenmaterialien. Daraus entsteht eine methodische Herausforderung, der nur interdisziplinär beizukommen ist: Jones schreibt die Geschichte Afrikas über Epochengrenzen hinweg im Konnex mit Archäologie, Linguistik und Ethnologie. Sein Buch zeigt, welch enormes Potential ein erweiterter Quellenbegriff besitzt, der materielle Zeugnisse und sprachgeschichtliche Erkenntnisse einschließt.
Den Reihenkonventionen entsprechend gliedert der Autor die Darstellung in drei chronologisch geordnete Hauptabschnitte. Er beginnt mit den "'ersten Menschen': Vom Paläolithikum bis zum Beginn der Eisenzeit vor 3000 Jahren" (45), behandelt "Afrikas Mittelalter (bis 1450)" als "Epoche der Diversifizierung" (105) und untersucht zwischen 1450 und 1850 "Konsolidierung, Kontakte und Konflikte" (211). Der letzte Abschnitt nimmt zunächst die Perspektive der "longue durée" (361) auf die Entwicklung Afrikas ein. Dem wird abschließend eine "Momentaufnahme" (361) des Kontinents im Jahr 1850 gegenübergestellt. Innerhalb dieser Sektionen durchbrechen jedoch thematische Teilkapitel und Fallbeispiele die zeitlichen Begrenzungen. Jones zeigt einerseits längerfristige politische, soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklungen auf. Andererseits warnt er vor Rückprojektionen vermeintlich traditioneller Lebensformen und Identitäten aus der kolonialen Situation.
Für die in Europa als Vor- und Frühgeschichte betrachteten Jahrtausende lenkt eine afrikanische historische Perspektive den Blick auf komplexe kulturelle Überlappungen. Während manche Gesellschaften Afrikas durch ökologische Impulse zu Veränderungen gezwungen wurden und - zu unterschiedlichsten Zeiten - die 'neolithische' Nahrungsproduktion oder Metallverarbeitung entwickelten, gelang es Wildbeutern durch dynamische Anpassungen ihre Lebensweise zum Teil bis ins 20. Jahrhundert fortzuführen. Jones zeigt anschaulich, wie problematisch es ist, technologisch-evolutionistische Epochenbezeichnungen (wie die in der Verlagswerbung auftauchende "Steinzeit" [1]) auf konkrete Gesellschaften anzuwenden.
Dem Trend zur Vervielfältigung, der für ihn das afrikanische "Mittelalter" (105) charakterisiert, spürt Jones in unterschiedlichen Lebensbereichen nach. Auf dem Gebiet der politischen Organisation geht er z.B. auf die bekannten frühen Staatsbildungen in Aksum (Äthiopien), im Westsudan, am unteren Niger und im südlichen Afrika ein. Er arbeitet aber auch heraus, welche Dynamik "nichtzentralisierte soziopolitische Organisationsformen" (109) zur gleichen Zeit entfalteten. Jones skizziert darüber hinaus, wie innerafrikanische Entwicklungen und äußere Einflüsse auf ökonomisch-technologischem, sozialem und religiösem Gebiet zusammenwirkten.
Den Abschnitt zur Neuzeit leitet ein Kapitel zur Geschichte des Sklavenhandels ein. Differenzierend begegnet Jones jeder politischen Instrumentalisierung dieses Themas. Unter Bezug auf slavevoyages.org beziffert er die Zahl der Menschen, die im transatlantischen Sklavenhandel in die Neue Welt verschifft wurden, auf 12,5 Millionen. Jones relativiert ihr Leid nicht. Er macht aber deutlich, dass der (atlantische) Sklavenhandel nur einen Teil der Austauschbeziehungen darstellte, in die der afrikanische Kontinent zunehmend eingebunden war. Zudem müssten die Auswirkungen regional und chronologisch unterschieden werden. Verlässliche Quellenbelege für eine "strukturelle Schwächung der Wirtschaft betroffener Regionen" (225) oder gar "einen dramatischen Rückgang der Bevölkerung Afrikas" (223) sieht der Autor nicht.
Auch für die Neuzeit stellt Jones dem Wandel durch Kontakte innere Entwicklungen gegenüber. Nach ersten Begegnungen mit katholischen Missionaren in der iberischen Expansion wandelte sich Afrikas religiöse Landschaft vor allem seit dem 18. Jahrhundert. In dieser Zeit entfalteten islamische Reformbewegungen (vor allem in Westafrika) staatsbildende Kraft. Die christlich-protestantische Mission wurde in derselben Epoche z.B. in Sierra Leone oder am Kap der guten Hoffnung aktiv. Dennoch erwiesen sich Lokalreligionen als adaptionsfähig und teilweise resistent gegenüber den Einflüssen der Universalreligionen aus dem "Makrokosmos" (267).
Immer wieder prüft Jones umfassende Erklärungen an konkreten Beispielen. So greift er z.B. ein Modell des Ethnologen Jack Goody auf, mit dem die Staatsbildungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nach der Kontrolle über "Zerstörungsmittel" (273) klassifiziert werden: Leicht herzustellende Waffen wie Pfeil und Bogen prägten relativ egalitäre, dezentral organisierte Gesellschaften. Speere und Schwerter erforderten demgegenüber schon Kontrolle über Metallverarbeitung. Pferde würden oft von einer vorherrschenden Elite monopolisiert. Gewehre (meist aus Europa importiert) förderten schließlich eine monarchische Zentralisierung. Der Ordnungsentwurf behält in Jones' knapper Zusammenfassung eine bestechende Logik. Doch differenziert der Autor selbst lieber nach dem ökologischen Umfeld (Savanne, Regenwald, Küste). Darin identifiziert er wiederum unterschiedliche Faktoren (muslimische Reform, lineage-Ordnungen, Kontrolle über Land oder Arbeitskraft, Geheimbünde), welche die konkrete Form der einzelnen Staatswesen bestimmten.
Im Hinblick auf präkoloniale Globalisierungstendenzen kehrt Jones sein argumentatives Verfahren um. Er beschreibt zunächst konkrete Formen der Einbindung Afrikas in die atlantischen bzw. pazifischen Fernhandelssysteme. Dann zeigt er beispielhaft Auswirkungen afro-europäischer Vermischungen (wie die miteinander verknüpften Staatsbildungen der Sotho, der burischen Voortrekker und der afro-europäischen Griqua im südlichen Afrika) auf. Solche komplexen Vorgänge unterminieren in Jones' Augen Wallersteins Weltsystemtheorie oder globale Modernisierungsnarrative.
Im Schlussabschnitt stellt Jones die provokante Frage, ob die afrikanische Geschichte langfristig eine Erklärung für heutige "Unterentwicklung" (363) liefern könne. Er antwortet darauf einmal mehr differenzierend. Spezifische ökologische und demographische Bedingungen hätten verhindert, dass sich Technologien wie das Rad oder der intensive Feldbau überall auf dem Kontinent durchgesetzt hätten. Kulturalistische Erklärungen, die Afrika generell eine Skepsis gegenüber Neuerungen zuschreiben, lehnt Jones eher ab. Ein Blick auf den Kontinent im Jahre 1850 zeigt abschließend, wie reich an Möglichkeiten Afrikas Zukunft zu diesem Zeitpunkt war. Der massive imperialistische Zugriff europäischer Mächte in den folgenden Jahrzehnten war keineswegs vorgezeichnet. Dennoch verzerren koloniale Zuschreibungen bis heute das Bild von Afrika und seiner Geschichte.
Jones gelingt in diesem Band eine anregende, kohärente Darstellung der vielfältigen vorkolonialen Geschichte(n) Afrikas. Leider sind dem Lektorat des Bandes einige Fehler entgangen. Dass die Herrnhuter Brüdergemeine konsequent zur "Brüdergemeinde" (so auch im Register, 465) gemacht wird oder der Krieg, der in Futa Jalon zu einer muslimischen Staatsgründung führte, im Text "in den Jahren 1727 und 1728" (255), auf der zugehörigen Karte aber "1725-28" (256) wütete, stiftet nur ein wenig Verwirrung. Dass Abbildung 10 offensichtlich keinen der "aus Seifenstein geschnitzten Raubvögel von Groß-Simbabwe" (150) zeigt, ist sehr bedauerlich, wurden doch die archäologischen Funde aus diesem Komplex zuvor als "beeindruckend" (149) beschrieben. In den Abbildungen liegt generell eine Schwäche des Bandes. Manche erscheinen lediglich illustrativ neben den Text gestellt, in anderen Fällen fehlt die Bebilderung zu Objekten, die in der Analyse genutzt werden.
Positiv hervorzuheben sind demgegenüber Hilfsmittel, die den Band auch für ein breiteres Publikum gut benutzbar machen. "Ausgewählte Literatur" (431) zu den einzelnen Abschnitten ergänzt die Spezialtexte aus den Verweisen. Ein Glossar (442-444) erläutert manche Fachbegriffe. Schließlich bietet eine Zeittafel (445-450) chronologische Orientierung. Ein einleitender Absatz erläutert, weshalb hier Daten überwiegen, die an Staatsbildungen oder europäische Akteure gebunden sind. Dieser Dominanz, begründet im klassischen, schriftlichen Quellenmaterial der Geschichtswissenschaft, stellt sich Jones' Geschichte Afrikas vor 1850 erfolgreich entgegen.
Anmerkung:
[1] http://www.fischerverlage.de/buch/neue_fischer_weltgeschichte_band_19/9783100108395 (6.6.2016)
Anke Fischer-Kattner