Maik Tändler: Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren (= Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen; Bd. 30), Göttingen: Wallstein 2016, 504 S., ISBN 978-3-8353-1850-2, EUR 49,90
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Nach 1968 setzte in der Bundesrepublik ein Psychologisierungs- und Therapeutisierungsprozess ein, der von Zeitgenossen als bemerkenswerte und signifikante Gegenwartserscheinung wahrgenommen wurde - vom Autor bemerkt als "Einläuten" des "age of therapy" (10).
Der vorliegende Band basiert auf einem Dissertationsprojekt an der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen. Maik Tändler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Jena, rekonstruiert darin komplexe kulturelle, politische und wissenschaftliche Rahmenbedingungen sowie gesellschaftliche Dynamiken im Zusammenhang mit dem sog. "Psychoboom" der 1970er Jahre.
Gründend auf der These, dass der betrachtete Psychologisierungsprozess eine nachhaltige Veränderung von Selbst- und Sozialverhältnissen bewirkt habe, widmet sich Tändler den Grundlagen dieser Entwicklung. Er verweist auf eine besonders enge Verflechtung wissenschaftlicher, politischer und kultureller Faktoren als ein wesentliches Merkmal des "Psychobooms" und seiner Entwicklungsdynamiken. Der Autor versteht seine Arbeit als Beitrag zur Verwissenschaftlichung von Selbst- und Sozialverhältnissen als Teil einer Geschichte postmoderner Subjektivität und damit zur Historisierung der 1970er Jahre (16).
In drei Teilen betrachtet Tändler die 1970er Jahre als "therapeutisches Jahrzehnt" (9) in engem Zusammenhang mit dem Wandel der Subjektkulturen: Neben der "Verwissenschaftlichung des Selbst" wie der "Befreiung des Selbst" betrachtet er die "Demokratisierung des Selbst".
Nach einem zeitgeschichtlichen Forschungsstand zu einem Jahrzehnt "zwischen gesellschaftspolitischem Aufbruch, Krisenstimmung und Neuer Subjektivität" (18) widmet sich das erste Kapitel der Gesellschafts- und Kulturgeschichte der psychowissenschaftlichen Disziplinen und Professionen, deren Entwicklungen "vom Nischenfach zur therapeutischen Leitwissenschaft" (95) der Verfasser eng mit dem "Psychoboom" verwoben sieht. Neben einer beschriebenen quantitativen Ausweitung werden insbesondere die dezidierte Politisierung von den Psyche-Fächern wie die Selbstpolitisierung eines beträchtlichen Anteils betroffener Experten beleuchtet. Tändler stellt eine Entwicklung hin zu einer Entpolitisierung der Psychowissenschaften qua Professionalisierung fest (43).
Im folgenden Teil nimmt der Autor eine komplementäre Untersuchungsperspektive ein zur Frage nach der Rezeption und Anwendung von "Psychowissen zu gesellschaftspolitischen Zwecken" (44). Tändler fragt danach, inwieweit und in welcher Form psychologisches und psychotherapeutisches Wissen umgekehrt in gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen eingeflossen ist und welche praktischen Konsequenzen daraus im Zusammenhang und in der Folge von '1968' gezogen wurden. Sein Interesse richtet sich auf die intellektuellen und politischen Zusammenhänge psychebezogener Argumente in der bundesdeutschen Diskussion zum Stand der gesellschaftlichen Demokratisierung und den Spätfolgen des Nationalsozialismus (189).
Im dritten Part setzt Tändler erneut an den sechziger Jahren an, um die "Geschichte der Gruppendynamik als Geschichte einer semitherapeutischen sozialpsychologischen Demokratisierungstechnologie" (44) zu betrachten. Tändler bemerkt eine Ausstrahlungskraft der Gruppendynamik, die in den 1970er Jahren weit über das linksalternative Milieu hinaus ging und auf zahlreiche gesellschaftliche Felder wirkte (44). Von diesen untersucht er einige exemplarisch - wie die gruppendynamischen Seminare der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, wobei er der Reihenfolge eines historischen Rezeptionspfads folgt. Anhand der längeren Geschichte der Gruppendynamik zeichnet Tändler den theoretischen und praktischen Wandel eines Ansatzes unter sich verändernden soziokulturellen Bedingungen nach.
In der abschließenden Betrachtung wertet Tändler den "Psychoboom" als ein komplexes gesellschaftliches Phänomen, das sich in einem doppelten Erbe begründet sehen lässt: sowohl einen "ausgeprägten wissenschaftlichen Steuerungs-und Modernisierungsmechanismus" (448) der 1960er Jahre wie den "Demokratisierungs- und Humanisierungsversprechen der 68er Zeit" (448). Medial getragen von einem expandierenden Angebot an psychebezogenen Büchern und Zeitschriften beschreibt Tändler die Entstehung einer therapeutischen Subkultur, die Raum für gruppenförmige Therapiemethoden bot und der hauptsächlich "Angehörige des alternativen Milieus, der akademisch progressiven Mittelschicht sowie der sozialen Dienstleistungsberufe" (448) angehörten.
Maik Tändlers Studie wird dem historiographischen Anspruch gerecht, die Geschichte einer therapeutischen Diskurs- und Praxiskonstellation zu beschreiben, die von den gesellschaftspolitischen Veränderungen ihrer Zeit geprägt war. Der Autor beantwortet die Fragen nach neuartigen Subjektivierungsformen und deren Zusammenhänge mit dem allgemeinen soziokulturellen Wandel (17). Die Untersuchung des "Psychobooms" bestätigt das Bild eines Jahrzehnts als "unübersichtliche[r] Umbruchzeit" (453), in der eine gesellschaftliche Reform- und Aufbruchsstimmung der 1968er weiter wirkte, und gleichzeitig von weiteren Verunsicherungen und Krisenwahrnehmungen überlagert wurde. In diesem Sinne lässt sich der "Psychoboom" als eine "ambivalente Form einer liberalisierten Verwissenschaftlichung des Selbst" (454) verstehen, das in erster Linie an das Eigeninteresse und die Bedürfnissen des Individuums appellierte.
Tändlers Band zeichnet das Bild eines gesellschaftlichen Prozesses, der langfristig den Boden bereitete für die Ausbreitung therapeutischer Selbstoptimierungstechniken im Zeichen einer immer weiter voranschreitenden Ökonomisierung des Selbst und dazu beitrug, dass die Psychologie sich zur therapeutischen Leitwissenschaft der1970er Jahre etablierte (449). Im Sinne Tändlers erscheint der "Psychoboom" im Rückblick als "avantgardistische Erprobungsphase von Subjektivierungstechniken, die sich als kongenial zur Kultur eines neu entstehenden 'flexiblen' Kapitalismus erwiesen haben" (Tändler 2012: 165). Im hier skizzierten Therapeutisierungsprozess spiegelt sich - parallel zur Psychiatriereform - eine Aufweichung eines strikten Dualismus von psychischer Krankheit und Gesundheit zugunsten eines graduellen Verständnisses von Therapie- und Beratungsbedürftigkeit (Vgl. Tändler 2011: 86).
Damit trägt Tändlers Band bei zu einer neuen Perspektive auf wissenschafts- wie sozialhistorische Prozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts und lädt den Leser gerade dazu ein, diese in Bezug zu setzen zu zeitgenössischen therapeutischen Entwicklungen "im Zeichen einer immer weiter voranschreitenden Ökonomisierung des Selbst" (Klappentext).
Felicitas Söhner