Susanne Kill / Christopher Kopper / Jan-Henrik Peters: Die Reichsbahn und der Strafvollzug in der DDR. Häftlingszwangsarbeit und Gefangenentransport in der SED-Diktatur, Essen: Klartext 2016, 216 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8375-1436-0, EUR 14,95
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Karin Schmidt: Zur Frage der Zwangsarbeit im Strafvollzug der DDR. Die "Pflicht zur Arbeit" im Arbeiter- und Bauernstaat, Hildesheim: Olms 2011
Leonore Ansorg: Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR. Die Strafvollzugsanstalt Brandenburg, Berlin: Metropol 2005
Volker Hess / Laura Hottenrott / Peter Steinkamp: Testen im Osten. DDR-Arzneimittelstudien im Auftrag der westlichen Pharmaindustrie, 1964-1990, Berlin: BeBra Verlag 2016
Unter den 250.000 Mitarbeitern der DDR-Reichsbahn waren selten mehr als 500 Häftlingsarbeiter (0,2 Prozent). Doch gerade ihnen konnten besonders schwere und unangenehme Aufgaben übertragen werden, weswegen sie etwa im Gleisbau sogar 6,4 Prozent aller Arbeiter stellten (Stand 1966). Wie viele Gefangene die Bahn insgesamt beschäftigte, bleibt jedoch wohl unbekannt, denn die Fluktuation in den Haftarbeitslagern war aufgrund geringer Strafmaße sehr hoch. Offenbar waren alle Häftlingsarbeiter der Bahn männlichen Geschlechts; je nach Stichtag der Erhebung zählte in einzelnen Haftorten jeder zweite zu den politischen Gefangenen.
Wegen ihres überalterten Wagenparks benötigte die Reichsbahn mehr Arbeitskräfte zur Instandsetzung als die Bundesbahn, die zudem ausrangierte Güterwagen überstellte. Auch diese harte Arbeit wurde, neben dem Gleisbau, oft Gefangenen aufgebürdet. Der allgemeine Arbeitskräftemangel in Ostdeutschland fügte sich hier in die Bemühungen der Gefängnisverwaltung ein, die Häftlinge zu beschäftigen - und zwar möglichst lukrativ. Oft wurde die Bahn auch selbst initiativ und ersuchte das zuständige Innenministerium, ihr Insassen nahegelegener Gefängnisse zum Arbeitseinsatz zu überlassen. Organisationsmängel und Pannen führten allerdings (wie in vielen DDR-Betrieben) zu wöchentlich bis zu vier Stunden Leerlauf für die Häftlingsarbeiter, natürlich ohne dass die hohen Arbeitsnormen deswegen reduziert wurden.
Für die Verwicklung der Reichsbahn in die Häftlingsarbeit der SED-Diktatur hat die Deutsche Bahn moralische und politische Verantwortung übernommen - als zweites Unternehmen nach Ikea. Das schwedische Möbelhaus war 2012 in die Schlagzeilen geraten, weil viele seiner Möbelstücke in der DDR von (politischen) Häftlingen mit gefertigt worden waren. Anders als die Skandinavier haben aber wohl weder Reichsbahn noch Bundesbahn mittels der Häftlingsarbeit in der DDR harte Devisen erwirtschaftet. Trotzdem bekleckerte sich die Reichsbahn beim Einsatz von Häftlingsarbeitern nicht mit Ruhm: Die Leitungsebene akzeptierte den Einsatz auch von politischen Gefangenen, und die einfachen Reichsbahner blieben gegenüber diesen Kollegen ebenfalls auf Distanz.
Da die Bahn hier Licht in das Dunkel bringen wollte, hat sie im Jahre 2014 die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte mit Nachforschungen beauftragt. Binnen Jahresfrist haben Susanne Kill, Jan-Henrik Peters und Christoph Kopper nun eine kundige Studie vorgelegt. Während Kill instruktiv in das Thema Haftarbeit einführt, befassen sich ihre beiden Mitautoren mit den Haftstätten in Sachsen sowie in der nördlichen Hälfte der DDR, von denen aus Gefangene für die Bahn arbeiten mussten. Haftorte in den Vordergrund zu stellen ist angesichts schlechter Überlieferungslage, knapper Zeit und des Bemühens um Anschaulichkeit verständlich. Doch nach zwei Überblicksdarstellungen zur Häftlingsarbeit in der DDR [1] sowie etlichen Fallstudien zu einzelnen Haftarbeitslagern hätte hier ruhig das Unternehmen selbst im Mittelpunkt stehen können: Wie dachten die Chefetagen der beiden Bahnunternehmen über die Haftarbeit? Und prüften sie alternative Strategien?
Dass fehlende Quellen eine Beantwortung dieser Fragen nicht gestatten, ist den Autoren nicht vorzuhalten. Doch ihre Annäherung an das Thema über die Haftorte gerät unsystematisch: So wird etwa inmitten des Kapitels über das Reichsbahn-Ausbesserungswerk Potsdam die Funktion des sozialistischen Strafvollzugs schlechthin erörtert. Offenbar blieb den drei Autoren zu wenig Zeit zur Abstimmung: Während etwa die Haushistorikerin der Deutschen Bahn, Susanne Kill, in ihrer Einleitung aus guten Gründen den Begriff der Zwangsarbeit vermeidet, benutzt ihn Jan-Henrik Peters sehr wohl.
Auch der Bahn stellte die Gefängnisverwaltung keine einschlägig ausgebildeten Gefangenen zur Verfügung. So erlitten diese in einigen Bereichen doppelt, in anderen gar zehnmal so viele Unfälle wie das Gros der Reichsbahner. Peters bezeichnet dies als ein "Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit" der Häftlinge, im Schlusskapitel heißt es etwas milder, Unfälle seien "fahrlässig in Kauf genommen" worden. Zugleich wurden die Häftlingsarbeiter seltener krankgeschrieben als die gewöhnlichen Reichsbahner und mussten mehr Überstunden leisten, weil sie sich nicht wehren konnten. Dass ihnen nur ein geringer Lohn ausgezahlt wurde, musste die Gefangenen im marxistischen Sinne "vollkommen vom Wert ihrer Arbeit entfremden" (so Kopper, 119).
Neben der Beschäftigung von Häftlingsarbeitern hatte die Reichsbahn auch am Transport der Gefangenen maßgeblichen Anteil, wie Peters weit ausholend schildert. So wurden in der DDR täglich Gefangene nach ihrer Verurteilung auf der Schiene unter großen Umwegen und Entbehrungen an ihre Bestimmungsorte gebracht. Im Januar 1950 wurden gar 8.000 Insassen der sowjetischen Speziallager in teils ungeheizten Wagen transportiert, was nach Einschätzung Peters' mit etwas gutem Willen auch humaner hätte organisiert werden können. Mit nur 16 Transportwaggons trug die Reichsbahn in den fünfziger Jahren die Hauptlast der Gefangenentransporte.
Im Laufe der Zeit wurden die zunächst etwa 200 Gefangenentransporter auf der Straße immer wichtiger, denn so ließen sich die Häftlinge schneller in die Haftanstalten überführen und zur Arbeit einsetzen. Ab 1980 ließ die Reichsbahn jedoch weitere Transportwaggons umbauen, ironischerweise teils durch Häftlingsarbeiter. Die Belüftung war völlig unzureichend, die 1,34 m2 einer Zelle sollten sich fünf Menschen teilen - und wurden in der Praxis gar mit zehn Personen belegt. Ab 1985 wurden zudem unter den Gleisen 7 und 8 des Leipziger Hauptbahnhofs Transportgefangene beim Umstieg zeitweilig verwahrt - in unterirdischen Zellen voller Kakerlaken und mit schimmeligen Bettdecken. Somit trug die Reichsbahn "eine Mitverantwortung [...] für die teils menschenunwürdigen Transportbedingungen" (197). Allerdings handelte es sich bei den Aussagen von Zeitzeugen, in getarnten Postwagen der Reichsbahn transportiert worden zu sein, wohl um eine Fehlwahrnehmung: Die Gefangenenwaggons wurden schlichtweg aus betrieblichen Gründen den Postwagen direkt angekoppelt.
Anmerkung:
[1] Vgl. Christian Sachse: Das System der Zwangsarbeit in der SED-Diktatur. Die wirtschaftliche und politische Dimension, Leipzig 2014; Tobias Wunschik: Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970-1989), Göttingen 2014.
Tobias Wunschik