John Pollard: The Papacy in the Age of Totalitarianism, 1914-1958 (= Oxford History of the Christian Church), Oxford: Oxford University Press 2014, XVI + 544 S., ISBN 978-0-19-876615-5, GBP 25,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Klaus Herbers / Victoria Trenkle (Hgg.): Papstgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue Zugangsweisen zu einer Kulturgeschichte Europas, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018
Veronika Unger: Päpstliche Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert. Archiv, Register, Kanzlei, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019
Matthias Thumser (Hg.): Epistole et dictamina Clementis pape quarti. Das Spezialregister Papst Clemens IV. (1265-1268), Wiesbaden: Harrassowitz 2022
Birgit Emich / Christian Wieland (Hgg.): Kulturgeschichte des Papsttums in der Frühen Neuzeit, Berlin: Duncker & Humblot 2013
Tanja Broser: Der päpstliche Briefstil im 13. Jahrhundert. Eine stilistische Analyse der Epistole et dictamina Clementis pape quarti, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018
Jonathan Gorry: Cold War Christians and the Spectre of Nuclear Deterrence, 1945-1959, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013
Craig Griffiths: The Ambivalence of Gay Liberation. Male Homosexual Politics in 1970s West Germany, Oxford: Oxford University Press 2021
Mark Edward Ruff: The Battle for the Catholic Past in Germany, 1945-1980, Cambridge: Cambridge University Press 2017
Das Papsttum und die Päpste üben bis heute eine bisweilen etwas rätselhafte Faszination aus. Stirbt ein Papst oder steht die Wahl eines Nachfolgers an, so überschlägt sich die weltweite Berichterstattung, und besucht das Oberhaupt der katholischen Kirche Großveranstaltungen wie den Weltjugendtag, wird er gefeiert wie ein Popstar. Die Begeisterung für das Phänomen hat auch die Forschung nicht unberührt gelassen, wie allein ein Blick auf die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft belegt: Dort wurde z.B. über die Medialisierung des Papsttodes seit dem späten 19. Jahrhundert geforscht [1] und wird nach dem soziologischen Zusammenhang von pilgerndem Papst und Papstpilgern gefragt. [2] Eine große Faszination für das Thema lässt sich auch in der akribischen Überblicksdarstellung "The Papacy in the Age of Totalitiarism, 1914-1958" ausmachen, die der britische Historiker John Pollard in der Reihe "Oxford History of the Christian Church" vorgelegt hat. Pollard ist für die Geschichte des Papsttums im 20. Jahrhundert kein unbeschriebenes Blatt. Seit vielen Jahrzehnten beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Vatikan und italienischen Katholiken [3], und seine Biografie über Benedikt XV. muss bis heute als das Standardwerk zu diesem Papst gelten. [4] Insofern lässt sich die Entscheidung der Reihenherausgeber, ihn für den Band zu gewinnen, gut nachvollziehen.
John Pollard gliedert sein Werk in insgesamt zwölf Kapitel. Sie enthalten eine Einleitung, die sich ausführlich den "Ursprüngen des modernen Papsttums" widmet, sowie eine abwägende Schlussbetrachtung, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei untersuchten Pontifikate auslotet und einen kurzen Ausblick in die Jahre nach 1958 gibt. Der Aufbau der zehn Themenkapitel dazwischen leitet sich von chronologischen und thematischen Gesichtspunkten her, wobei Benedikt XV. (1914-1922) mit zwei, Pius XI. (1922-1939) und Pius XII. (1939-1958) mit je vier Kapiteln bedacht werden. Der Zuschnitt der einzelnen Kapitel verdeutlicht, worum es Pollard geht, nämlich: "to present the history of the papacy in the reigns of three popes [...] rather than the Catholic Church as a whole" (3). Er zielt folglich in erster Linie darauf ab, die Geschichte der einzelnen Päpste, ihres Regierungsapparats und ihrer Berater zu rekonstruieren und ihr Handeln in Beziehung zu den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im "Zeitalter des Totalitarismus" zu stellen. So zeichnet er in den beiden Kapiteln über Benedikt XV. nach, wie dieser sich in (kirchen-)politischen Fragen von den isolationistischen Tendenzen seines Vorgängers Pius' X. löste und die katholische Kirche zu einem neutralen Friedensagenten auf internationaler Ebene zu machen versuchte. Zugleich skizziert Pollard die Reformprozesse, die Benedikt XV. beispielsweise mit der Promulgation des Codex Iuris Canonici 1917 weiter vorangetrieben hat, und verortet diese kenntnisreich in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen. Wichtig ist ihm hierbei zu betonen, dass die Päpste und der Vatikan nicht allein als säkulare politische Institutionen zu verstehen sind, sondern als internationale religiöse Akteure (3).
Wie meisterhaft John Pollard das vielschichtige Zusammenspiel der verschiedenen Akteure im Vatikan wie Päpste, Staatssekretäre, Kurienmitarbeiter, Diplomaten und Ordensvertreter durchdrungen hat, zeigt sich auch in den vier Kapiteln über Pius XI. Im Fall des Papstes der Zwischenkriegszeit spielt Pollard in die Hände, dass das Vatikanische Geheimarchiv 2006 umfangreiche Bestände zugänglich gemacht und die Forschung über diesen Papst seither stark an Fahrt gewonnen hat. Pollard macht dem Leser die neuen Erkenntnisse auf verständliche Weise zugänglich. Er beschränkt sich in seiner Rezeption allerdings weitgehend auf aktuelle englischsprachige Werke. Andere Publikationen, die sich beispielsweise übergreifend mit der Religionsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert auseinandersetzen [5] oder Debatten außerhalb des englischen Sprachraums wie die häufig manisch geführte deutsche Kontroverse um die Bedeutung des Reichskonkordats von 1933 [6], nimmt er dagegen nicht auf. Zur Person von Pius XI. trägt Pollard dementsprechend vieles zusammen, was in der Forschung an anderer Stelle bereits gesagt wurde: So beschreibt er detailliert die Verhandlungen des Vatikans mit dem italienischen Staat, die 1929 in der Lösung der Römischen Frage durch die Lateran-Verträge mündeten, und setzt sich intensiv mit dem Verhältnis von Pius XI. zu kommunistischen und faschistischen Diktaturen auseinander. Neues kommt dabei letztlich nicht zutage, aber immerhin tritt Pius XI. so deutlich aus dem Schatten seines langjährigen Staatssekretärs Eugenio Pacelli, der als Pius XII. auch sein Nachfolger sein sollte.
Ihm billigt Pollard ebenfalls viel Raum in seinem Buch zu. Das verwundert wenig, ist das Pontifikat von Pius XII. mit fast zwanzig Jahren doch das längste der drei untersuchten Päpste. Zugleich gibt es im 20. Jahrhundert wohl keinen Pontifex, der in der Nachbetrachtung weniger umstritten wäre. Während er für viele konservative Katholiken bis heute den "letzten wahren Papst" (445) darstellt, hat er sich für andere durch seine Zurückhaltung gegenüber dem Hitler-Regime und seinen Verbrechen zum Mittäter gemacht. Pollards Verdienst ist es, all diese Sichtweisen zu kennen und einzuordnen. So erinnert er daran, dass selbst die liberale New York Times bei der Wahl 1939 titelte: "Pius XII - not the pope the totalitarians desired" (295). Mit dem Tod des Pacelli-Papstes im Jahr 1958 endet die Studie. Das scheint auf den ersten Blick logisch, stehen doch die Pontifikate im Mittelpunkt der Untersuchung. Bei eingehenderem Nachdenken stellt sich jedoch die Frage, inwiefern sich die zeitliche Periodisierung mit dem gleichzeitig gestellten Anspruch deckt, das Papsttum in der Zeit totalitärer Regime zu untersuchen. Hier ist sehr zu bedauern, dass Pollard die Begriffe total und totalitär erst am Ende des Buches ernsthaft diskutiert (459). Dabei drängt sich einem der Anschein auf, dass Kommunismus und Faschismus als gleichwertige Totalitarismen behandelt werden. Wenn dem aber tatsächlich so ist, was allein schon kritisch zu hinterfragen wäre, dann fragt man sich umso mehr, warum die Untersuchung 1958 endet und nicht beispielsweise 1989/1990, als die kommunistischen Regime in Osteuropa zusammenbrachen.
Pollard scheint solche Überlegungen nicht zu teilen, sondern den Totalitarismus-Begriff sehr allgemein zu fassen. Wie sonst käme er auf die Idee, am Ende zu fragen, ob sich die katholische Kirche unter den drei untersuchten Päpsten nicht letztlich selbst zu einem totalitären Regime entwickelt habe. Pollard bejaht die Frage zwar nicht direkt. Er stellt aber fest, dass die Kirche unter Pius XII. fast alle Mittel besessen habe, um ihre Gegner zu bezwingen. Lediglich der Gewaltapparat habe ihr im Vergleich zu anderen Totalitarismen gefehlt. Eine solche Feststellung aus dem Mund eines renommierten Historikers verblüfft: nicht nur, weil ihr, wie gesagt, die nötige Sensibilität für das geschichtswissenschaftliche Begriffsinstrumentarium fehlt, sondern auch, weil sich darin eine erstaunliche Gleichsetzung von politischen und religiösen Akteuren andeutet. Hatte Pollard nicht selbst wiederholt auf ein Proprium kirchlich-religiösen Handelns hingewiesen? Worin bestand dieses dann? Lediglich in der Verteidigung katholischer Minderheitenrechte oder im Rekurs auf moralische Wertvorstellungen? Das wäre sicher zu kurz gegriffen, wie letztlich neuere Forschungen zur performativen Wirkungsmacht religiöser Akte, gerade auch von Päpsten, belegen. Solche Überlegungen hat John Pollard leider nicht aufgegriffen, obwohl sie fruchtbare Erkenntnisse geliefert hätten. Dessen ungeachtet bleibt das Werk äußerst gut recherchiert und kenntnisreich, das jedem zur Einführung in die päpstliche Politik- und Diplomatiegeschichte des frühen 20. Jahrhunderts empfohlen sei.
Anmerkungen:
[1] René Schlott: Papsttod und Weltöffentlichkeit seit 1878. Die Medialisierung eines Rituals (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte; Bd. 123), Paderborn 2013.
[2] Vgl. DFG-Projekt "Die Legionen des Papstes. Eine Fallstudie sozialer und politischer Transformation", geleitet von Mariano Barbato, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, URL: http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Moderne/aktuelles/forschung/projekte/projekt_papstpilger_.html (14.10.2016).
[3] Vgl. John Pollard: The Vatican and Italian Fascism, 1929-32: A Study in Conflict, Cambridge 1985; ders.: Catholicism in Modern Italy: Religion, Society, and Politics since 1861, London / New York 2008.
[4] Vgl. John Pollard: The Unknown Pope: Benedict XV (1914-1922) and the Pursuit of Peace, London 1999.
[5] Vgl. z.B. Hugh McLeod (ed.): World Christianities, c.1914-c.2000 (= Cambridge History of Christianity; Bd. 9), Cambridge 2006.
[6] Vgl. Thomas Brechenmacher (Hg.): Das Reichskonkordat 1933. Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte; Bd. 109), Paderborn 2007.
Daniel Gerster