Agnieszka Gasior / Lars Karl / Stefan Troebst (Hgg.): Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert (= Moderne europäische Geschichte; Bd. 9), Göttingen: Wallstein 2014, 487 S., 38 Abb., ISBN 978-3-8353-1410-8, EUR 48,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Als Kind der Romantik hat die Vorstellung einer kulturellen Einheit aller slavischsprachigen Völker besonders im "langen" 19. Jahrhundert auch zahlreiche politische Einigungskonzepte unterschiedlicher Couleur nach sich gezogen. Bezugnahmen auf "Slavizität" sind in Politik, Kultur und Kunst zwar seltener gewordenen, finden sich in verschiedenen Variationen aber bis heute. Ein Projekt am Leipziger Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas untersuchte von 2011 bis 2013 Beispiele dieser Formen von Identitätsbildung im 20. und 21. Jahrhundert. Ein Ergebnis der Projektarbeit ist der vorliegende Sammelband, nachdem einige der Beteiligten bereits ein Themenheft der Zeitschrift Osteuropa erstellt hatten, auf das zahlreiche Bezugnahmen erfolgen. [1] Bei den Beiträgern handelt es sich in der Hauptsache um Historiker und Slavisten, wie es denn auch zu den Zielen von Projekt und Band gehört(e), für beide Disziplinen das Konzept "(Post-)Slavizität" beziehungsweise den "Slawen-Diskurs" als "eine das Fach einende Klammer bzw. einen Fluchtpunkt für Forschungsanstrengungen" (14) zu etablieren.
Eine knappe Einleitung und ein aus zwei Beiträgen bestehender "wissenschaftshistorischer Prolog" - deren erster eine gekürzte englischsprachige Fassung des Einleitungsaufsatzes von Mitherausgeber Stefan Troebst aus dem Band Gemeinsam Einsam ist - befassen sich mit dem aktuellen Stand des Umgangs mit "Slavizität" in Politik und Wissenschaft. Eine an anderer Stelle geäußerte Kritik [2] kann dabei auf den vorliegenden Band übertragen werden: Die im Titel genannten Begrifflichkeiten werden nicht genauer voneinander abgegrenzt und scheinbar austauschbar verwendet. Gerade wenn mit ihnen ein eigenes Forschungsprogramm verbunden werden soll, wäre hier aus analytischen Gründen eine größere begriffliche Sensibilität, auch wenn diese im zeitgenössischen Gebrauch natürlich nicht immer vorhanden war, doch wünschenswert gewesen. In beiden Beiträgen wird dieser Komplex jedoch nur gestreift. Der neuseeländische Literaturwissenschaftlicher David Williams nennt in seinen Betrachtungen zum Stand seines Faches in der anglo-amerikanischen Wissenschaftswelt einige Gründe "to reject the 'Slavist' term" (40) als Selbstbezeichnung. Auf die abschließende Frage "But what should we call ourselves instead?" (40) kann und will er aber keine Antwort geben. Überhaupt bildet sein Beitrag einen prägnanten Überblick über so manche Defizite des aktuellen wissenschaftlichen Betriebs. Gerade mit Blick auf den quantitativen Bedeutungsrückgang des Faches auch im deutschsprachigen Raum - wobei die Slavistik noch um einiges stärker betroffen sein dürfte als die Geschichtswissenschaft - sind solche Eingeständnisse von Unsicherheit über den Gegenstand und die Zukunft der eigenen wissenschaftlichen Zunft leider nichts Neues mehr. Und wenn jenseits der Diagnose die Suche nach Alternativen, wie bei Williams, unterbleibt, so stimmt dies wenig hoffnungsvoll.
Unbeeindruckt von solchen Überlegen gruppieren sich die 18 Fallstudien des Bandes - die hier nicht alle einzeln angesprochen werden sollen - paritätisch um die vier Themenkomplexe "Ideologien des Slavischen", "Identitätskonzepte und (Selbst-)Verortungsstrategien", "Mythologeme des Slavischen" und "Perzeptionen des Slavischen". Sie zeigen anhand einzelner Fälle die Potentiale einer Beschäftigung mit dem titelgebenden Themenkonglomerat auf, zumal sich hier so manche historische Grundlagen für aktuelle politische Befindlichkeiten oder auch Versuche von Rückbezügen im östlichen Europa finden lassen. Im ersten Abschnitt etwa betrachtet Jan C. Behrends die Bedeutung panslavistischer Motive in der sowjetischen Propaganda im Kampf gegen die deutsche Invasion im Zweiten Weltkrieg, die einen wichtigen Pfeiler in der Strategie zur Mobilisierung der Bevölkerung gegen die Wehrmacht bildeten. Entsprechende Bezugnahmen dienten dann besonders gegen Kriegsende bereits zur Legitimierung der kommenden Ordnung. Der traditionelle russische Oberhoheitsanspruch über die slavischen Völker wurde nun unter sowjetischen Vorzeichen neu gewendet. Der Bruch mit Titos Jugoslawien und die Tatsache, dass nun auch einige nicht slavisch geprägte Staaten unter sowjetischer Oberhoheit standen, ließen entsprechende Deutungsmuster freilich bald zurücktreten. Der imperiale Anspruch blieb davon unbenommen - ein Element, das auch im heutigen Russland Anhänger findet, womit sich unter anderem der Beitrag des russischen Historikers Konstantin Nikiforov befasst.
Die Untersuchungen zu "Identitätskonzepten und (Selbst-)Verortungsstrategien" widmen sich hauptsächlich aktuellen Fragestellungen, was den Band auch für weitere Disziplinen wie etwa Politikwissenschaft oder Soziologie interessant macht. Jenny Alwart thematisiert "Vorstellungen über das 'Slavische' und den 'Osten'" (163), wie sie in deutschen Tageszeitungen anlässlich der Berichterstattung zum Eurovision Song Contest 2015 in der Ukraine transportiert wurden. Besonders "Osten" war dabei häufig präsent und stand zumeist für "politische Spannungen und mit Ängsten besetzte Bilder" (176), "Slavizität" hingegen bildete "kein[en] präsente[n] Bezugsrahmen" (177) - ein Befund, zu dem man sich mit Blick auf das Oberthema des Bandes hier und an anderer Stelle einige detaillierte Ausführungen gewünscht hätte. Insgesamt wird deutlich, dass die Presse häufig wenig differenziert berichtet, woran sich bis heute kaum etwas geändert haben dürfte. Mitherausgeber Lars Karl zeigt in seinen ausführlichen Betrachtungen zu Identitätskonzepten der Kosakenbewegung in Russland auf, dass auch hier "slavische" Bezugnahmen eher die Ausnahme darstellen, wobei etwa pro-slavische gegenüber anti-westlichen Positionierungen dominieren. Insgesamt handele es sich bei den heutigen "Neokosaken" eher um "ein interessantes Fallbeispiel für den allgemeinen Aufstieg national(istisch)er Bewegungen in sämtlichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion" (196). Auch aktuelle Wiederanknüpfungen an die Sokol-Bewegung des 19. Jahrhunderts scheinen in Russland eher national(istisch) denn (pan)slavistisch geprägt, wie Irina Sirotkina ausführt.
Wechselverhältnisse (pan)slavischer und nationaler Bezugnahmen werden auch im dritten Abschnitt verhandelt, dessen Beiträge inhaltlich eng auf jene des zweiten bezogen sind. Eine zwiespältige Stellung von Slavizität konstatiert Jolanta Sujecka auch für die makedonische Nationalbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, da der Begriff "einerseits für notwendig gehalten wird, um die innere ethnokulturelle Zerrissenheit der Region zu überwinden, andererseits verliert aber durch die postulierte ethnokulturelle und nationalpolitische Abgrenzung zu den slavischen Nachbarn ihre Kontur und wird generell in Frage gestellt" (288). Ähnliches beschreibt Rüdiger Ritter für Identitätsbildungen in der Musik mit Blick auf Polen, Litauen und Belarus. Auf den Panslavismus als Ordnungsmodell wurde hier von polnischer und belarussischer Seite Bezug genommen, während die litauische Nationalbewegung übernationale Verbindungen eher jenseits einer "slavischen Gemeinsamkeit" (ebenda) suchte.
Die integrative Kraft antislavischer Vorstellungen und externe Wahrnehmungen von Slavizität allgemein werden schließlich im vierten inhaltlichen Block des Bandes thematisiert. Adamantios Skordos skizziert Kozeptionen einer "slavischen Gefahr", wie sie in Deutschland, Österreich, Italien und Griechenland vertreten wurden. Dabei wird deutlich, dass "die Vorstellung von einer Gemeinschaft aller Slaven bei nicht-slavischen Europäern stark verbreitet war - wohl stärker als innerhalb der betroffenen Gruppe selbst" (390). Verbunden wurden solche Zuschreibungen im Lauf des 20. Jahrhunderts zunehmend mit einer Identifizierung von "Slaventum" mit Bolschewismus/Kommunismus, wofür sich in allen vier von Skordos untersuchten Gesellschaften Indizien finden lassen. Solche übergreifend angelegten Beiträge, wie sich im Band noch weitere finden, verdeutlichen besonders gut die Potenziale einer transnational angelegten Geschichtsschreibung zum östlichen Europa, die auch den Faktor "Slavizität" für sich analytisch fruchtbar machen kann. Zu einer solchen Geschichtsschreibung leistet der Sammelband, der auch mit zahlreichen aussagekräftigen Abbildungen ausgestattet ist, in der Summe einen wertvollen Beitrag.
Anmerkungen:
[1] Manfred Sapper / Volker Weichsel u. a. (Hgg.): Gemeinsam Einsam. Die Slawische Idee nach dem Panslawismus, Berlin 2009 (Osteuropa, 12/2009).
[2] Vgl. Martina Winkler: Rezension zu Sapper / Weichsel (wie Anmerkung 1), in: Bohemia 50 (2010), 239-240, hier 240.
Martin Munke