Vittore Branca: Merchant Writers. Florentine Memoirs from the Middle Ages and Renaissance. Translated by Murtha Baca (= The Lorenzo Da Ponte Italian Library), Toronto: University of Toronto Press 2015, X + 407 S., ISBN 978-1-4426-3714-6, USD 75,00
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Die englische Übersetzung von Vittore Brancas berühmter Anthologie Florentiner Kaufmannstexte aus dem 14./15. Jahrhundert bietet ein schönes Lesebuch zu einer Epoche, die zu den berühmtesten Episoden der vormodernen Wirtschaftsgeschichte zählen dürfte. Branca überschlägt sich in der Einleitung geradezu, die besondere Stellung herauszustreichen, die das Florenz der Renaissance in der Geschichte einnehme. Nicht weniger als die Welt habe sich hier verändert: Sei sie bisher von Kaiser und Papst dominiert worden, so gäben von nun an die wirtschaftlich führenden Personen und die Nationen den Ton an. Die Welt beherrsche mithin, wer die Wirtschaft beherrsche.
Das Werk richtet sich explizit an den interessierten Laien, den Branca eher mit emphatisch geschilderten Szenebildern zu gewinnen trachtet denn mit nüchternen Schilderungen des Forschungsstandes etwa über die Kurzlebigkeit von Familiengesellschaften. Entsprechend wurde die Einleitung aus dem Jahr 1986 für die Neuauflage in englischer Sprache nicht überarbeitet, nicht einmal in ihrem historiographischen Kontext verortet, denn der biographische Appendix über Vittore Branca ist eher hagiographisch angelegt. Als wirtschaftshistorisch interessierter Leser erwartet man vergeblich Fußnoten, die beispielsweise auf die Diskussionen über Begriff und Phänomen des Kapitalismus verweisen oder darauf, dass der doppelten Buchführung heute keine umfassend revolutionäre Wirkung mehr attestiert wird.
Allerdings richtet sich Brancas Anthologie auch nicht an Wirtschaftshistoriker, sondern neben den interessierten Laien vor allem an Literaturwissenschaftler. Branca, selbst ein Boccaccio-Experte, sieht die hier versammelten Texte als Exponenten einer eigenen Literaturgattung, die gleichberechtigt neben die Lyrik, die Narration und das ritterlich-romantische Genre zu stellen sei. Diese Kaufleuteliteratur sei im 13. Jahrhundert aus den Randnotizen von Rechnungsbüchern entstanden, in denen Kaufleute Notizen zu ihrer Familiengeschichte ebenso festzuhalten begannen wie kurze Skizzen der Menschen ihrer Umgebung oder sogar Reflexionen über die aktuelle soziale und politische Situation sowie über moralische und religiöse Fragen.
Als Vorbilder für solche Ausführungen fungierten Zeitgenossen wie Dante, Petrarca und Boccaccio genauso wie deren Vorbilder Cicero, Vergil oder Seneca, deren Werke in den Bibliotheken der Kaufleute standen. An dieses ambitionierte Ideal annähern konnten sich gemäß dem Urteil der Übersetzerin Murtha Baca allerdings höchstens Giovanni di Paolo Morelli und Bonaccorso Pitti. Die Ausführungen des ersteren bezeichnet auch Branca als Meisterwerk der Kaufleuteliteratur. Morelli verwob die Geschichte seiner Familie und seiner Heimatstadt Florenz mit Porträts seiner Zeitgenossen, moralischen Ausführungen, religiösen Ergüssen, mystischen Visionen und nahezu psychologischen Selbstanalysen. Bei Bonaccorso Pitti zeigt sich der Fokus auf das eigene Leben und das individuelle Streben nach Glück noch ausgeprägter. Vordergründig erzählt er den Lobpreis seiner Familie, deren Herrschaft in Florenz gerade unter Druck geriet. Ein besonders erfolgreiches Kapitel im Leben seiner Familie schreibt er nach eigener Auskunft aber selbst: Indem er Glücksspiele nicht nur erfolgreich mitspielte, sondern sie auch ausrichtete, erhielt er Zugang zu den höchsten Kreisen und verkehrte mit Königen und Fürsten. Diesem Kaufmann, der sich eher als adliger Glückritter inszeniert, gehören auch Brancas Sympathien; er beschreibt ihn in der Einleitung als Gegenstück zur "middle-class narrow-mindedness" (29) der übrigen Kaufleute-Literaten.
Die übrigen Stücke bezeichnet die Übersetzerin als eher langweilig. Dieses Urteil würde ein Wirtschaftshistoriker wohl nicht teilen. So erfasst Domenico Lenzi, selbst Getreidehändler, die Getreidepreise für die Jahre 1309 bis 1319 und interpretiert deren Schwankungen als Zeichen der Vorsehung. Preislisten verbindet er mit religiösen und moralischen Reflexionen und schildert insbesondere den Hunger der Armen mit anschaulich-drastischen Worten. Paolo da Certaldo und Goro Dati, ersterer zuständig für die Brotversorgung der Florentiner Miliz, zweiterer ein mäßig erfolgreicher Seidenhändler, lassen sich als Pädagogen unter den Kaufleuteliteraten beschreiben: Certaldo stellt in 388 Sprüchen Maximen für ein gelingendes Kaufmannsleben auf, das die Spannung zwischen den Zielen eines Kaufmanns und den Zielen eines christlichen Lebens zu überwinden trachtet. So sei sicherer Wohlstand nur der, den man selbst erarbeitet habe, Wohltätigkeit eine hohe Pflicht. Dati könnte seine moralischen Erwägungen, so suggeriert Branca, von Certaldo abgeschrieben haben; sein "geheimes Buch" unterrichtet den Leser aber auch über seine Familiengeschichte und schildert die Finanzkrisen seiner Zeit.
Donato Velluti und Lapi di Giovanni Niccolini de Sirigatti bekleideten beide neben ihrer Tätigkeit als Kaufleute wichtige städtischer Ämter. Ihre Aufzeichnungen dienen dem Lobpreis ihrer Familie aus konkreten machtstrategischen Gründen, um ihre Position in der Florentiner Oligarchie zu sichern. Die Stücke zweier berühmter Kaufleute runden die Sammlung ab, nämlich das Testament Francesco Datinis, der hauptsächlich wegen seiner umfänglich erhaltenen Briefsammlung bekannt ist, und die Erinnerungen von Bernardo Machiavelli, der als Vater von Niccolò Bekanntheit besitzt und neben Klatsch, Tratsch und den Sorgen des täglichen Lebens auch Reflexionen über die in seiner Bibliothek zahlreich vorhandenen Klassiker in sein Werk einfließen ließ.
Die Texte sind nicht kritisch ediert, lediglich Brancas Fußnoten, die den historischen Kontext erhellen, wurden übersetzt und um Erklärungen italienischer wie englischer Fachausdrücke ergänzt. Ebenso gibt es keine gemeinsame Bibliographie, sondern lediglich eine kurze bibliographische Notiz nach der Einleitung. Der Index nennt nur Personen, keine Orte oder Themen. So präsentiert sich das Buch als netter Einstieg für jeden, der auf eher essayistische Weise in die Vorstellungwelt der Kaufleute eintauchen möchte, die man frühkapitalistisch nennen könnte. Für die Beantwortung konkreter wissenschaftlicher, insbesondere wirtschaftswissenschaftlicher Fragestellungen kann es höchstens Anregungen liefern. Deshalb ist zu begrüßen, dass Brancas Anthologie überhaupt übersetzt wurde, da sich der Rezipientenkreis so natürlich stark erweitert. Insbesondere für die Beschäftigung mit der reichen deutschen Tradition der Kaufmannsbücher, die zwar gerade in jüngerer Zeit wieder stärker erforscht, meines Wissens nach noch nicht als eigenständige Literaturgattung aufgefasst werden, bieten sich wohl viele Anknüpfungspunkte.
Branca betont in der Einleitung, dass die Geschichte der Welt nicht ohne die Geschichte der Wirtschaft geschrieben werden kann. Dreißig Jahre später wirkt dieser Hinweis heute selbstverständlich. Ähnlich wie die Florentiner Kaufleute, deren Texte Branca versammelt, versuchen auch wir uns heute in einer Welt zu orientieren, die nach einer Phase der Expansion in eine Zeit gedrosselten Wirtschaftswachstums einzutreten scheint. Dabei zu Regeln und Normen zu finden, die wirtschaftlichen Logiken folgen, aber moralische und ethische Standards nicht vernachlässigen, forderte schon im Florenz der Renaissance die klügsten Köpfe der Zeit, die keine einfachen Lösungen fanden. Auch auf dieser ganz allgemeinen Ebene kann das Buch als Inspiration dienen.
Ulla Kypta