Rezension über:

Dietrich Boschung / Jürgen Hammerstaedt (Hgg.): Das Charisma des Herrschers (= Morphomata; Bd. 29), München: Wilhelm Fink 2015, 283 S., 7 Farb-, zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-5910-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Gregor Weber
Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Gregor Weber: Rezension von: Dietrich Boschung / Jürgen Hammerstaedt (Hgg.): Das Charisma des Herrschers, München: Wilhelm Fink 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 1 [15.01.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/01/27737.html


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Dietrich Boschung / Jürgen Hammerstaedt (Hgg.): Das Charisma des Herrschers

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Das vorliegende Buch geht auf eine Tagung zurück, die im Oktober 2014 im Rahmen des "Internationalen Kolleg Morphomata" stattfand. Dieses Kolleg fragt u.a. danach, wie "Vorstellungen von Macht und Herrschaft [...] in verschiedenen Medien und Materialien eine verbindliche Form erhalten und wie Vorstellungen von Macht und Herrschaft durch solche Konkretisierungen sich einerseits verändern, auf der anderen Seite aber auch stabilisiert und tradiert werden" (7). Die aktuelle Konkretion widmet sich der "emotionale[n] Grundierung, die oft sakral ausgeprägt ist", konkret: der "besonderen Ausstrahlung des Herrschenden" (8) in ihrer Vermittlung, für die Max Weber den Begriff 'Charisma' verwendet hat. Von den zehn Fallstudien, denen eine begriffliche und theoretische Reflexion von Beat Näf vorausgeht, beziehen sich sechs auf die griechisch-römische Antike. Diesen sind die vier Beiträge zur Kontrastierung mit außereuropäischen Modellen der Königsideologie vorangestellt, um die Verhältnisse in der Antike mit einem schärferen Profil zu versehen. Das kurze Vorwort von Dietrich Boschung zeigt Rahmen und Anliegen auf.

Näf stellt in seinem Beitrag "Das Charisma des Herrschers. Antike und Zeitgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts" nach begrifflichen Klarstellungen das Charisma-Konzept von Max Weber vor und ordnet es in seinen zeithistorischen Kontext ein. Daran schließen sich Einschätzungen einzelner antiker Herrscher (besonders Alexander, Caesar und Augustus) und ihres Charismas in der Forschung, zumal in Faschismus und Nationalsozialismus, an. Aufschlussreich sind die Ausführungen zu Fritz Taeger, der sich 1957-59 monographisch mit der Thematik, vor allem mit dem Herrscherkult, befasst hat, ohne jedoch Max Weber zu zitieren. Näf zeigt auch hier die zeithistorischen Forschungsbezüge auf. Auch auf andere Autoren (z.B. Nock, Nilsson, Latte, Habicht, Fishwick, Price und Clauss), die sich mit Herrscherverehrung auseinandergesetzt haben, wird eingegangen. Abschließend macht Näf deutlich, wie vielfältig der Umgang mit Max Weber ausfallen konnte, und weist auf etliche weitere Studien hin. [1] Sein Beitrag gibt folglich für die Fallstudien des Bandes keine Definition, sondern einen Referenzrahmen vor.

Anregende "Modelle der Königsideologie" behandeln Petr Charvát (altes Mesopotamien), Francis Breyer (Aksum), Johannes Harnischfeger (Nigeria) und Franziska Ehmcke (vormodernes Japan). Dabei geht es um theokratische und dynastische Legitimationsmodelle in der herrscherlichen Selbstdarstellung, um ein "Konglomerat von traditionaler (Gottessohnschaft) und charismatischer Herrschaft (Wahlkönigtum)" (89), um die Sakralisierung von Königen, die Machtbeschränkungen bis hin zum Königsmord nicht ausschloss, gleichzeitig den Zusammenhalt autonomer Gewalten förderte und als Alternative die Einführung mächtiger Orakel nach sich zog, und um eine Verlagerung des Charisma eines einzelnen Herrschers auf das Herrscherhaus. Bereits hier zeigt sich, dass - für Sammelbände nicht untypisch - die einzelnen Autoren in sehr unterschiedlichem Maße auf den Referenzrahmen Bezug nehmen.

Auch die beiden Beiträge in der Rubrik "vergöttliche Herrscher" sind Spezialstudien: Benjamin Garstad stellt in "Deification in Euhemerus of Messene: Charisma or Contrivance" eine Verbindung zwischen Euhemeros' Konzept der Götter, die einst Menschen waren und göttliche Ehren forcierten (Zeus etc.), und konkreten Fällen vor 300 v.Chr. her, in denen bedeutende Persönlichkeiten kultische Ehrungen erhielten. Euhemeros antizipierte dabei nicht den städtischen Herrscherkult, sondern allenfalls Kulte der Dynastie, zumal er nicht sagt, "why Zeus went about deifying himself" (168). Dietrich Boschung untersucht in "Divus Augustus. Das Charisma des Herrschers und seine postume Beglaubigung" die Umstände der Divinisierung des ersten Princeps, die sich u.a. in verschiedenen Bildelementen zeigt. Sie mündete jedoch nicht in eine neue Ikonographie; auch habe sich der Divus Augustus nicht in Wundern und Taten manifestiert, so dass seine politische Bedeutung verschwand. Demgegenüber haben sich, so wird man konstatieren müssen, unzählige Nachfolger auf den lebenden Vorgänger bezogen.

Was die "sakrale Inszenierung antiker Herrscher" angeht, so behandelt Eckart Schütrumpf Aristotle's Concept of a king "like god among men"; er gelangt zum Ergebnis, dass "superiority that transcends human reality [...] is not charismatic because it is not based on the faith of followers that their leader possess certain superhuman qualities but on a calculus after a comparison of qualities" (209). François Queyrel widmet sich mit "Synnaoi theoi. Die sakrale Inszenierung der Königsstatuen" einem noch zu wenig erforschten Phänomen. Er analysiert zahlreiche Inschriften mit entsprechenden Vorschriften und versucht, im erhaltenen Porträt-Material agalmata (Kultstatuen) und eikones (Ehrenstatuen) zu verifizieren; wesentlich ist die Erkenntnis, dass die Statuen nur unter Berücksichtigung des Aufstellungskontextes verstanden werden können. "Herrscherliche Inszenierungen in den Diadochenkriegen am Beispiel von Antigonos I. und Demetrios I." sind das Thema des Beitrags von Linda-Marie Günther. Sie plädiert für eine differenzierte Betrachtung der vielen Einzelzeugnisse, zumal mit Blick auf Zielgruppen der jeweiligen Inszenierung; hierbei kam der Kommunikation mit Athen und der Forcierung des Poseidon als Bezugspunkt für Demetrios eine zentrale Rolle zu. Günther betont, dass die beiden Antigoniden keine charismatische Herrschaft angestrebt hätten, und ist auch sonst zurückhaltend mit der Apostrophierung einzelner Zuschreibungen an die Herrscher als 'charismatisch'. Den Sprung in die Spätantike unternimmt Henning Börm, der "Dynastie und Charisma im Sasanidenreich" untersucht und für das Anforderungsprofil an einen König starke Parallelen zur hellenistischen Monarchie zieht.

Der Band beinhaltet keine zusammenfassende Auswertung oder gar Fortentwicklung des Charisma-Konzepts, sondern es bleibt dem Leser überlassen, aus der heterogenen Palette an zumeist gelungenen Beiträgen seine Schlussfolgerungen zu ziehen. [2] Dies ist umso mehr zu bedauern, als die Chance bestanden hätte, die Thematik weiter voranzubringen. [3]


Anmerkungen:

[1] Zu ergänzen wäre die weiterführende Auseinandersetzung mit der Thematik von Ulrich Gotter (43, Anm. 83 nur erwähnt): Die Nemesis des Allgemein-Gültigen. Max Webers Charisma-Konzept und die antiken Monarchien, in: Pavlina Rychterová / Stefan Seit / Raphaela Veit (Hgg.): Das Charisma. Funktionen und symbolische Repräsentationen, Berlin 2008, 173-186; außerdem Fabian Brändle: Charisma. Über eine wirkungsmächtige Kraft an der Schnittstelle zwischen Ereignis, Individuum und politischer Kultur, in: Saeculum 61 (2011), 17-35; Stefan Breuer: Der charismatische Staat. Ursprünge und Frühformen staatlicher Herrschaft, Darmstadt 2014; Paul Joosse: Becoming a God: Max Weber and the social construction of charisma, in: Journal of Classical Sociology 14,3 (2014), 266-283.

[2] Der Band ist insgesamt gut produziert, sieht man von einer nicht vorhandenen Abbildung (89: Abb. 8), einem nicht nachgewiesenen Autor (86), einem fehlenden Titel (Garstad 2006) und etlichen Tippfehlern ab.

[3] Dies ist z.B. im ersten, von Nino Luraghi 2013 herausgegebenen Band der Reihe "Studies of Ancient Monarchies" gelungen. Auch Ulrich Gotters konzise Analyse von Webers Konzept (Anm. 1) einschließlich der Grenzen seiner Anwendung sowie die erarbeiteten Kategorien für einen strukturellen Vergleich von hellenistischem Königtum und römischem Prinzipat hätte leitend sein können.

Gregor Weber