Sabine Stach: Vermächtnispolitik. Jan Palach und Oskar Brüsewitz als politische Märtyrer (= Moderne europäische Geschichte; Bd. 12), Göttingen: Wallstein 2016, 511 S., 28 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1815-1, EUR 42,00
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Bei Diskursen über systemkonforme und systemkritische politische Helden und Märtyrer herrschte im Staatssozialismus naturgemäß eine ungleiche Ausgangslage: Während auf der einen Seite der gesamte staatliche Propagandaapparat für die Popularisierung oder Diskreditierung zur Verfügung stand, konnte sich auf der anderen Seite eine (zudem meist inoffizielle) Gegenöffentlichkeit nur schwer artikulieren. Dass aber ebenso wie bei vielen anderen Themen die Annahme von einer reinen Dichotomie zwischen Regime und (Gegen-)Gesellschaft auch hier zu kurz greift, zeigt die gedruckte Dissertation von Sabine Stach zu den Diskursen über Jan Palach und Oskar Brüsewitz während und nach der Zeit des Staatssozialismus.
Der tschechoslowakische Student Jan Palach verbrannte sich im Jahr 1969 öffentlich in Prag, um gegen die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings und die anschließende sogenannte "Normalisierung" in der Tschechoslowakei zu demonstrieren; der Pfarrer Oskar Brüsewitz wählte 1976 im sächsischen Zeitz dieselbe Form des öffentlichen Freitods aus Protest gegen die repressive Kirchenpolitik in der DDR. Die Deutung dieser beiden Taten als Akte von "politischen Märtyrern" war schwierig: Palach und Brüsewitz schieden nicht im aktiven Kampf oder als Folge eines politisch motivierten Mordes aus dem Leben, sondern "freiwillig" - und dazu in einer spezifischen und bis zu diesem Zeitpunkt in Europa äußerst ungewöhnlichen Weise. Sie konnten als Helden und Opfer zugleich interpretiert werden.
Um Genese und Entwicklung der Diskurse über Palach und Brüsewitz in der ganzen Breite zu erfassen, analysiert Stach die Positionen ihrer zivilgesellschaftlichen, staatlichen und kirchlichen Akteure in der Tschechoslowakei und der DDR und im (vor allem westlichen) Ausland vor 1989 sowie nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus. Sie geht dabei in vier Schritten vor: Zunächst beschreibt sie in einem ersten Teil "Märtyrerdiskurse im Staats- und Postsozialismus", wobei sie vor allem theoretische Überlegungen, Begriffe und ihre Methoden erörtert. Im zweiten Teil folgt die Analyse der Diskurse über Palach, im dritten die Untersuchung zum Fall Brüsewitz, und im letzten Teil befasst sie sich mit den vergleichenden Perspektiven dieser "Vermächtnispolitik".
Den Begriff "Vermächtnispolitik" wählt Stach, um den diskursiven Aushandlungsprozess zwischen den verschiedenen Akteuren besser einordnen zu können. Es gehe - bezugnehmend auf die juristische Definition des Begriffs - um die Frage, wer Anspruch auf das Vermächtnis eines "Märtyrers" habe bzw. wer in dessen Schuld stehe. Demzufolge "umfasst Vermächtnispolitik die Gesamtheit öffentlicher Aushandlungen von aus politischen Martyrien abgeleiteten Schuldverhältnissen" (49). Auch wenn Zweifel angebracht sind, ob der ohnehin schon umfangreichen erinnerungsgeschichtlichen Terminologie noch weitere Begriffe hinzugefügt werden müssen, ist die "Vermächtnispolitik" auf diese Weise gut begründet. Offensichtlich wird bei der Analyse, dass neben den an den Märtyrerdiskursen in den beiden staatssozialistischen Gesellschaften beteiligten Gruppen gerade westliche Akteure ein großes "vermächtnispolitisches" Engagement entwickelten.
Besonders deutlich wird dies im Fall Brüsewitz, der bis 1989 angesichts der spezifisch deutsch-deutschen Situation im Ost-West-Konflikt vor allem in der Bundesrepublik als politischer Märtyrer im Kampf gegen den Kommunismus gedeutet wurde - was aufseiten der Sozialdemokratie und der evangelischen Kirche durchaus Widerspruch hervorrief. Seine gesamtdeutsche "Karriere" als politischer Märtyrer ist zudem eine des Postsozialismus, wenngleich natürlich ostdeutsche Regimekritiker die Selbstverbrennung sofort intensiv diskutierten und manche von ihnen (neben anderen Ereignissen wie etwa die Ausbürgerung Wolf Biermanns) auch als Impuls für ihre oppositionelle Arbeit begriffen. Ähnlich gestaltete sich dies im Fall Palach, dessen Protest - anders als seine Form - von den Verfechtern des gescheiterten tschechoslowakischen Reformprozesses gewürdigt wurde. Dass Palach heute als heldenhafter Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie gilt, hängt aber ebenfalls mit der Deutung seines Freitods im Westen (unter anderem durch das tschechoslowakische Exil) sowie vor allem mit der Entwicklung in Tschechien nach 1989 zusammen.
Die Diskurse auf den verschiedenen Ebenen beeinflussten sich selbstredend gegenseitig. Gerade die Diskreditierung der Toten durch die Regime bewirkte das Gegenteil von der intendierten Verhinderung eines Märtyrerkults: Palach und Brüsewitz konnten so als noch bessere Beispiele für den Kampf gegen den Staatssozialismus gedeutet werden. Ferner zeigt Stach eindrucksvoll, dass in beiden Staaten nicht nur unterschiedliche Haltungen der politischen Führungen und der Gegenöffentlichkeit existierten, sondern auch Regimekritiker verschiedene Positionen zu den Freitoden formulierten und in ihrer Mehrheit eine kultische Verehrung der beiden Personen ablehnten. Unter anderem auch deswegen können die "samtene" tschechoslowakische und die "friedliche" ostdeutsche Revolution von 1989 nicht ohne weiteres als Erfüllung des Vermächtnisses von Palach und Brüsewitz gelten.
Die beiden Märtyrerdiskurse waren also sehr heterogen und durchliefen Wandlungen, wobei eben die Deutungsmuster von Akteuren im westlichen Ausland eine besonders wichtige Rolle spielten. Stach: "Als politische Märtyrer sind demnach beide transnationale Projektionsfiguren, die ihre starke Wirkung erst im Doppelbezug auf Ost und West erfahren." (462). Die heute vorherrschenden Bilder von Palach und Brüsewitz als Streiter für Freiheit und Demokratie, deren Vermächtnis 1989 erfüllt worden sei, entstanden somit nicht geradlinig und schon gar nicht zwangsläufig.
Die Studie bietet eine umfassende und reflektierte Diskursanalyse, die auf einer breiten Materialbasis beruht: Neben historiografischen, publizistischen und literarischen Quellen hat Stach unter anderem Webseiten, Filme, Rundfunksendungen und Denkmäler sowie natürlich Archivmaterial (unter anderem Akten der Staatssicherheitsdienste beider Länder) ausgewertet. Ihre Analyse der Diskurse über zwei regimekritische Personen, die durch Selbstverbrennungen aus dem Leben schieden, bereichert die Forschung über Helden und Märtyrer im Staatssozialismus in vielfältiger Weise.
Volker Zimmermann