Frank Jacob / Cornelia Baddack / Sophia Ebert / Doreen Pöschl (Hgg.): Kurt Eisner Gefängnistagebuch (= Reihe Kurt Eisner-Studien; Bd. 1), Berlin: Metropol 2016, 224 S., ISBN 978-3-86331-295-4, EUR 19,00
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Mit dem Gefängnistagebuch Kurt Eisners wird eine Quelle veröffentlicht, die keineswegs nur für Forschungen zur Person des ersten bayerischen Ministerpräsidenten von eminenter Bedeutung ist. Vielmehr profitieren von der leichteren Zugänglichkeit auch Forschungsvorhaben, die die Spätphase des Ersten Weltkriegs, die Revolution des Jahres 1918, aber darüber hinaus auch die Geschichte der Sozialdemokratie im frühen 20. Jahrhundert in den Blick nehmen. Der Wert der Aufzeichnungen Kurt Eisners liegt darin begründet, dass sie uns den Hauptprotagonisten des Umsturzes in Bayern wenige Monate vor der Revolution in einer für Ihn höchst kritischen Phase zeigen. Eisner war verhaftet worden, weil er - gegen den Widerstand von MSPD und Gewerkschaften - die Teilnahme der Münchner Arbeiterschaft am Januarstreik des Jahres 1918 durchgesetzt und darauf hingearbeitet hatte, den Demonstrationsstreik zum politischen Streik auszuweiten. Nun stand ihm ein Landesverratsverfahren mit ungewissem Ausgang bevor. Kein Wunder, dass er sich in dieser Situation veranlasst sah, die Streikbewegung noch einmal zu rekapitulieren, sein eigenes Verhalten zu rechtfertigen und seine politischen Ziele zu bilanzieren.
"Gefängnistagebuch" ist daher eine eher irreführende Bezeichnung für die von Eisner in drei Hefte eingetragenen Gedankengänge und literarischen Versuche. Zwar hat er seine Eintragungen datiert, doch nehmen sie inhaltlich so gut wie keinen Bezug zu Eisners Hafterfahrungen. Lediglich die literarischen Arbeiten - Gedichte und kurze Prosastücke -, die die letzten Seiten des zweiten und große Teile des dritten Heftes füllen, thematisieren punktuell auch die Haftsituation. Ansonsten geht es dem Autor eher um den Rück- als um den Augenblick. Heft 1 rekapituliert dabei vor allem die Ereignisse des Januarstreiks, Heft 2 greift hingegen bis in die Jahre unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurück.
Die zeitnahe Reflexion der politischen Hintergründe und der eigenen Motive macht die Bedeutung der Notizen aus. Vor allem das erste und große Teile des zweiten Hefts geben einen unmittelbaren Einblick in Eisners politisches Denken in der Zeit zwischen Kriegsausbruch und Januarstreik. In seinen Aufzeichnungen reflektiert er vor allem das Geschehen der Januarstreiktage, zeigt dieses gleichsam aus der inneren Warte und lässt so die Umstände und Gegebenheiten erkennen, die dazu führten, dass der Streik in München erst verspätet begann und dann einen anderen Verlauf nahm als andernorts. Neben Eisners persönlichem Wandel vom Befürworter der Kriegskredite zum entschiedenen Kriegsgegner treten hier vor allem mehr als deutlich die Verwerfungen zu Tage, die der Weltkrieg in der organisierten Arbeiterbewegung ausgelöst hatte. Das "Gefängnistagebuch" hilft aber auch Eisners persönliche Anschauungen besser zu verstehen, und die politische Strategie einzuordnen, die er nach der Revolution in seiner neuen Rolle als bayerischer Ministerpräsident einschlagen sollte. So wird man Eisner - bei Kenntnis dieser Aufzeichnungen - kaum noch vorwerfen können, ein verkappter Bolschewist gewesen zu sein. Die Distanzierung von den Ereignissen in Russland kommt schon im "Gefängnistagebuch" klar und unmissverständlich zum Ausdruck.
Die Veröffentlichung der Gefängnistagebücher erfolgt in der Form der wissenschaftlichen Edition. Das bedeutet, dass eine Fassung vorgelegt wird, die auf typographischem Wege die von Eisner vorgenommenen Textänderungen und -ergänzungen sichtbar macht und teilweise durch Klammerzusätze näher erläutert. Das hat den Vorteil, dass eine zusätzliche Sinnebene erkennbar wird, dient aber nicht unbedingt dem Leseerlebnis. Auf ein breiteres Publikum dürfte diese Form der Textexegese eher abschreckend wirken.
Was die einleitenden Erläuterungen und Kommentare anbelangt, haben sich die Herausgeber eher Zurückhaltung auferlegt. Viele der von Eisner erwähnten Namen, Orte oder Ereignisse werden gar nicht oder unzureichend erläutert. Speziell der mit den Umständen der Eisner-Biographie wenig vertraute Leser dürfte sich daher schwertun, Eisners detailgenaue und anspielungsreiche Auslassungen in das konkrete Geschehen und in Eisners politisches Umfeld einzuordnen. Wenn Eisner etwa von seiner über "Chemnitz" erfolgten Propaganda für die Kriegskredite spricht (52), so muss man wissen, dass damit nicht der Ort, sondern die dort erscheinende Arbeiterzeitung "Chemnitzer Volksstimme" gemeint ist. Bei Dr. David (109), der laut Anmerkung nicht zu ermitteln war, handelt es sich um den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Eduard David, der die Burgfriedenspolitik der SPD nachdrücklich gefördert hatte. Was es mit den Münchner Kruppwerken auf sich hatte, bleibt ebenfalls im Dunkeln. Auch die verschiedenen von Eisner erwähnten Versammlungsorte hätten eine Erläuterung verdient gehabt.
Transkription und Kommentierung weisen zudem Fehler und Ungenauigkeiten auf, die darauf hindeuten, dass die Herausgeber speziell mit den Verhältnissen in München weniger gut vertraut sind. So wird beispielsweise der seinerzeit noch selbständige Münchner Ortsteil Großhadern, in dem Eisner wohnte, mit "Großladen" aufgelöst (40). In der Anmerkung zu den von Eisner erwähnten Geschwistern Landauer (77) wird kommentarlos der Name Gustav Landauer genannt. De facto handelt es sich bei den Schwestern um die aus Ansbach stammenden Betty und Emilie Landauer. Sie gehörten jenem Zirkel von Jugendlichen an, die aus der SPD-Arbeiterjugend gekommen waren, sich im Krieg eng an Kurt Eisner angeschlossen hatten und ab 1916 den Kern der von ihm veranstalteten Diskussionsabende bildeten. Eine verwandtschaftliche Beziehung zu Gustav Landauer ist dagegen nicht erkennbar.
Dies schmälert allerdings den Wert des Vorhabens nur bedingt. Trotz aller Mängel im Detail stellt die Veröffentlichung für die Forschung zweifellos einen Gewinn dar, wird diese wichtige Textquelle so doch erstmals ohne aufwändige Archivrecherche zugänglich.
Bernhard Grau