Annelen Ottermann: Die Mainzer Karmelitenbibliothek. Spurensuche - Spurensicherung - Spurendeutung (= Berliner Arbeiten zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft; Bd. 27), Berlin: Logos Verlag 2016, 2 Bde., 1297 S., ISBN 978-3-8325-4100-2, EUR 149,00
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Im Heiligen Land lagen ihre Ursprünge. Ihre erste Regel (formula vitae) erhielten die auf dem Berg Karmel siedelnden Eremiten vom Patriarchen von Jerusalem in den Jahren um 1206-1214, unmittelbar danach begann ihr Exodus. Vor wachsendem muslimischem Druck wichen sie in den Westen aus und hatten sich dort auf gänzlich neue Lebensbedingungen und -weisen einzustellen. Der Papst sorgte 1247 für eine neue Regel: aus einem Zusammenschluss von Einsiedlern wurde ein Bettelorden. In Mainz ließen sich die wegen ihrer ausgeprägten Marienfrömmigkeit auch "Frauenbrüder" genannten Karmeliten zwischen 1271 und 1285 nieder, wo vor allem Seelsorge und Ordensstudium zu ihren Kernaufgaben gehörten. Der Mainzer Konvent war, von kleineren Unterbrechungen abgesehen, von 1318-1802 Teil der Niederdeutschen Ordensprovinz der Karmeliten.
Die vorliegende Arbeit will - zeitlich breit angelegt vom Spätmittelalter bis zur Auflösung 1802 - die ehemalige Mainzer Karmelitenbibliothek rekonstruieren und analysieren. Nach der Auflösung des Konvents gelangte der Großteil der Bibliothek über die alte Mainzer Universitätsbibliothek an die Stadtbibliothek Mainz. Die Verfasserin, als Mitarbeiterin dieser Bibliothek bestens mit deren Bestandstektonik vertraut, formuliert folgendes Erkenntnisziel: "Die Sammlungsphysiognomie einer seit 200 Jahren institutionell und räumlich nicht mehr existenten Bibliothek sollte durch Rekonstruktion und Analyse des erhaltenen Corpus erstmals wieder als Quelle für interdisziplinäre Fragestellungen wahrnehmbar und zugänglich werden." (20)
Ein anspruchsvolles Unterfangen: Bestandskataloge sind für die Mainzer Karmeliten nämlich nicht erhalten. Umfang, Inhalt und Ausmaß der Fragmentierung dieser Büchersammlung lassen sich deshalb nur über Annäherungswerte (und manchmal noch nicht einmal das) bestimmen. Es gilt, mit großen Überlieferungs- und Informationslücken umzugehen. Verschärfend kommt hinzu, dass sich auch die archivalische Überlieferung zum Kloster "äußerst dünn und lückenhaft" (25) präsentiert. Die Bestandsermittlung erwies sich deshalb als komplex, sind die historischen Drucke doch weder in der Mainzer Stadtbibliothek noch im Gutenberg-Museum nach Provenienzen aufgestellt. Dies machte eine aufwändige Bestandsdurchsicht und autoptische Erhebung in den Magazinen notwendig. Allein der in der Stadtbibliothek in Betracht kommende Bestand umfasste ca. 130.000 Bände, im Gutenberg-Museum waren immerhin noch 2848 Inkunabeln zu sichten.
1589 Handschriften und Drucke aus vier Jahrhunderten konnten schließlich als ehemaliges Eigentum der Karmeliter nachgewiesen werden, wobei sich das ermittelte Bestandsvolumen auf 39 Handschriften, 289 Inkunabeln und Postinkunabeln bis 1520 und 1261 Drucke des 16.-18. Jahrhunderts verteilt.
Drei methodische Problemfelder stehen im Zentrum der aus 16 Kapiteln bestehenden Untersuchung: 1. Gesteuerter Bestandsaufbau - Wachstumskontingenzen; 2. Buchbesitz - Buchgebrauch; 3. Wirkungsgeschichte des Buchs. Den Fallstricken, die sich aus Überlieferungskontingenzen ergeben, ist sich die Verfasserin stets bewusst, bergen doch lückenhafte Provenienzketten und fragmentierte Informationen stets die Gefahr einer Verfälschung der historischen Realität.
Auf der Grundlage einer ausführlichen historischen Kontextualisierung mit luziden Ausführungen zu Bildung und Wissenschaft bei den Bettelorden im Allgemeinen, den Mainzer Karmeliten im Besonderen erfolgt zunächst die Analyse der Bibliotheksverwaltung im Mainzer Konvent (cap. 11, 219-349). Diskutiert werden bibliotheksinterne Richtlinien, Aufstellung, Verzeichnung, Systematisierung, Zugänglichkeit und Bestandspflege der Bücher über die Jahrhunderte. Die Frage danach, wie eigenständig der jeweilige Bibliothekar neben dem Prior agieren, wer damit also das Bibliotheksprofil bestimmen durfte, wird dahingehend beantwortet, dass die Autorin im Mainzer Bestand Hinweise auf ein eigenständiges Agieren des Bibliothekars ausmachen kann. Auch Probleme von Wachstumsgeschwindigkeit und Gesamtcharakter einer Bibliothek finden Behandlung (c. 12: Bestandsentwicklung, 350-484). Wie ließ sich eine Bibliothek mit klar erkennbaren Schwerpunkten aufbauen, wo man doch immer auch von Schenkungen, Legaten, Stiftungen von Einzelstücken oder ganzer Privatbibliotheken abhängig war? Hier werden nicht nur trockene Zahlen referiert, sondern auch einige Karmeliten mit ihren Ordensbiographien und als Buchbesitzer vorgestellt - Persönlichkeiten, die wie Johannes Münzberger (1540-um 1609) ihren ganz eigenen Beitrag zur Konstituierung und Physiognomie der Bibliothek geleistet haben.
Das mit Abstand umfangreichste Kapitel 13 widmet sich der Bestandsanalyse (487-886), stellt mithin den Rekonstruktionsbestand unter inhaltlichen Aspekten vor und zeigt thematische Linien im Bestandsprofil auf. Die Analyse differenziert dabei nicht nach Medienarten: handschriftliche und gedruckte Textüberlieferung werden gleichermaßen berücksichtigt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass das scholastische Schrifttum eine "außerordentlich starke Ausprägung von Gebrauchs- und Rezeptionsspuren" (524) aufweist. Thomas von Aquin, der im Rekonstruktionsbestand noch immer mit 17 Bänden vertreten ist, wurde offensichtlich gelesen. Wenig überraschend stellen Predigten, als einzelne oder in Sammlungen, das stärkste Segment innerhalb des Rekonstruktionsbestands dar. Sie wurden gezielt erworben. Allerdings zeigt sich mit Blick auf die überlieferten Autoren einmal mehr das Dilemma, vor dem die Predigtforschung bis heute steht. Augenscheinlich wurde bei den Karmelitern viel gepredigt, doch sind Predigten aus der Feder von Karmeliten selbst bis ins späte 16. Jahrhundert hinein eine rare Spezies. Die Gründe hierfür sind unklar. Auch sonst fällt die Abwesenheit einiger großer Karmelitenautoren auf, bei denen sich wie beispielsweise im Fall von Guido Terreni oder Arnold Bostius in Ermangelung von Katalogen nicht sagen lässt, ob sie ursprünglich im Bestand vertreten waren. Worüber man sich im Mainzer Karmel aber umfassend informieren konnte, waren die Auseinandersetzungen zwischen Karmeliten und Bollandisten. Letztere hatten im 17. Jahrhundert den Gründungsmythos des Ordens und damit dessen raison d'être in Zweifel gezogen. Folge war die Indizierung der entsprechenden Schriften.
Ausgelagert in einen zweiten Band, der mit 378 Seiten nur rund ein Drittel des ersten Bandes umfasst, wurden Tabellen und Abbildungen, die wesentlich zum Verständnis der Untersuchung beitragen. Insbesondere die tabellarischen Auflistungen der unterschiedlichen Provenienzen im Rekonstruktionsbestand erweisen sich als große Hilfe und ermöglichen den Einblick in das intellektuelle Profil von Einzelpersönlichkeiten. Die fast durchweg farbigen, qualitativ hochstehenden Abbildungen - von Handschriftenproben über Marginalglossen und Subskriptionen, von Einbänden über Vorsatz- und Titelblätter bis hin zu Rückenschilden und Signaturen - zeugen von der Leistungsfähigkeit der Mainzer Stadtbibliothek.
Die Anzahl der Druckfehler hält sich in engen Grenzen, störend ist nur der großzügige, fast schon verschwenderisch zu nennende Umgang mit dem zur Verfügung stehenden Raum. Hätte man doch nur bei den über 4000 Fußnoten auf die Absätze verzichtet! Wer weiß, vielleicht hätte man dann auf einen zweiten Band verzichten können?
Die Mainzer Karmelitenbibliothek war eine Gebrauchsbibliothek, in der praedicatura und docentura dominierten. A. Ottermann hat in einer methodisch überaus durchdachten, detailreichen und mit bewundernswerter Akribie durchgeführten Untersuchung diese Bibliothek wieder zum Sprechen gebracht. Nicht nur innerhalb der Ordensforschung wird ihr Werk für lange Zeit seinen Wert behalten.
Ralf Lützelschwab