Rezension über:

Lisa Dieckmann: Traumdramaturgie und Selbstreflexion. Bildstrategien romantischer Traumdarstellungen im Spannungsfeld zeitgenössischer Traumtheorie und Ästhetik, Köln: Modern Academic Publishing 2016, 328 S., DOI: http://dx.doi.org/10.16994/bab, ISBN 978-3-946198-00-0, EUR 29,99
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Rezension von:
Claire Gantet
Historisches Seminar, Universität Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Claire Gantet: Rezension von: Lisa Dieckmann: Traumdramaturgie und Selbstreflexion. Bildstrategien romantischer Traumdarstellungen im Spannungsfeld zeitgenössischer Traumtheorie und Ästhetik, Köln: Modern Academic Publishing 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 3 [15.03.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/03/30038.html


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Lisa Dieckmann: Traumdramaturgie und Selbstreflexion

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Das aktuelle gesteigerte Interesse für den Traum als Forschungsgegenstand weist zweifelsohne auf ein Forschungsdesiderat hin. Die Untersuchung des schillernden, unstabilen Schwellenphänomens vom Traum - zwischen Himmel und Erde, Gott und Teufel, Prophetie und Aberglauben, Imagination und Realität, Wahrheit und Irrtum, Welt und Innerlichkeit, Unbewusstem und Bewusstsein - setzt in der Tat bei den heutzutage spezialisiert ausgebildeten Wissenschaftlern gleichzeitig dezidiertes Experimentieren und fundierte Pluridisziplinarität voraus. Diese Herausforderung hat Lisa Dieckmann in ihrer 2012 in Köln abgeschlossenen kunsthistorischen Dissertation angenommen, die nun veröffentlicht vorliegt.

Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist einerseits die Feststellung einer "Krise der Bildlichkeit" (Werner Busch) geprägt von der Abkehr von Mimesis und Illusionismus, andererseits die Beliebtheit des Traummotivs, gar die "Traumaffinität" (2) der deutschen Romantik: Der Traum wird nicht mehr lediglich als Motiv in der Kunst, sondern auch als Methode zur Infragestellung der Bewusstseinsprozesse und des Schaffensprozesses eingesetzt. Die eigene, raum- und zeitungebundene Traumdramaturgie wird zur Chiffre einer neuartigen Ästhetik der inneren Bilder. Dieser Fragestellung gemäß untersucht Dieckmann nach ihrer definitorischen Einleitung (1) die "Traumtheorie und Ästhetik zu Beginn des 19. Jahrhunderts" (2) und anschließend einige exemplarische "romantische Traumdarstellungen im Spannungsfeld zeitgenössischer Diskurse" (3).

Im ersten Teil zeigt Dieckmann auf, wie die Kunst gegenüber der Philosophie in der Romantik aufgewertet wurde. Wie der Traum wurde die Kunst als bildbasiert und bilderzeugend wahrgenommen. Mehr noch: Bilder wurden nun als Repräsentationen des Unendlichen und Vergegenständlichung einer ursprünglichen Einheit aus dem Widerstreit von Dualismen aufgefasst. Das Absolute schien daher nicht mehr diskursiv in der Philosophie, sondern nur noch bildlich durch die Kunst wiedergegeben werden zu können. Dadurch wurde der Traum "identitätsstiftend" (5) für die Kunst; er wurde zum Medium der wahren Erkenntnis. Zwar wurden Themen und ein gewisses Formenrepertoire in die Romantik aufgenommen und weiterhin tradiert, wie beispielsweise das Motiv von Jakobs Himmelsleiter. Sie wurden jedoch neu kontextualisiert, sodass sich die Kunst der Romantik durch die Kombination und Inszenierung solcher Bilder kennzeichnete. Gegen eine landläufige Einschätzung sieht Dieckmann das Gründungsdokument der Romantik nicht in Hegels "Ästhetik", sondern in der bisher kaum erforschten "Philosophie der Kunst" Schellings. Erst Schelling - auf Schellers Berliner Vorlesung über "Die Kunstlehre" von 1801/02 aufbauend - habe die Bedeutung der Kunst und des Unbewussten in der Philosophie ans Licht gebracht und dadurch die Grundlage für die Kunst der Jahre 1820 bis 1840 gelegt. Während Gotthilf Heinrich Schubert solche Ansätze popularisierte, verband Carl Gustav Carus Kunstpraxis mit medizinischen und psychologischen Überlegungen.

Der dritte Teil bildet das Kernstück des Buches. Dieckmann liefert eine ikonografische und ikonologische Analyse im Sinne Panofskys, indem sie sich auf Quellen und Texte konzentriert, und gleichzeitig nimmt sie das Medium Bild und seine Wahrnehmung nach der Methode Max Imdahls in den Blick. Ihre Analyse stützt sich auf wenige, bewusst heterogene Beispiele der Jahre 1820 bis 1840 und widerlegt die simple Idee einer Dichotomie zwischen der Kunst des protestantischen Nordens und des katholischen Südens. Vielmehr fällt der besondere Charakter der deutschen Romantik auf, die im Gegensatz zur französischen oder englischen zeitgenössischen Kunst keine Albtraumdarstellungen aufweist (55, 56). Trittsicher beschreibt Dieckmann die "Ästhetik der inneren Bilder" im "Transparentzyklus" Caspar David Friedrichs und ihr verwobenes Zusammenspiel symphonischer Elemente, im "Traum Raffaels" von Franz und Johannes Riepenhausen sowie im "Traum des Erwin von Steinbach" von Moritz von Schwind, der auf historisierende Fragmente anspielt und mittels Arabesken und gotischen Formen den Bildraum in den Betrachterraum hinein erweitert. Im "Träumer" von Caspar David Friedrich fungiert die Evokation von zwei divergierenden Landschaften als Anstoß für Reflexions- und Bewusstseinsprozesse. Im Aquarell "Der Traum Adams" von Schwind werden die christlichen Traditionen des Adamstraums und der Wurzel Jesse verschmolzen und anhand von Zitaten von Bildmotiven von Philipp Otto Runge und mithilfe der Korallen- und Quellensymbolik zu einem unendlichen Bild erweitert. Die letzte Illustration, "Der Abend" von Clemens Brentano, veranschaulicht die Verbildlichung des Märchens "Gockel, Hinkel und Gackeleia" in einer Art Collage von Texten unterschiedlicher Herkunft und heterogener Autorschaft, sodass der Text rhythmisiert wird und die Textpassagen Assoziationen zu den Bildern hervorrufen. Sämtliche Beispiele zeigen überzeugend auf, wie die romantische Kunst assoziativ, medienübergreifend und traumbasiert verstanden werden kann.

Der zweite, theoretische Teil der Arbeit hätte zweifelsfrei tiefer und präziser den Stoff kontextualisieren können. Dieckmann definiert niemals die Begriffe Bewusstsein und Unbewusstsein, geht von vornherein von einem starken Gegensatz zwischen Aufklärung und Romantik aus und erwähnt in keiner Weise die zeitgenössischen Diskussionen um die Etablierung der Psychologie als akademisches Fach. [1] Die Unterscheidung zwischen Werken und Diskursen ist pädagogisch zwar manchmal notwendig. Beide Ebenen sind jedoch öfter verknüpft. Der dritte, kunsthistorische Teil überzeugt jedoch völlig und beleuchtet bisher äußerst überraschend unerforschte grundlegende Aspekte der deutschen Romantik. Insofern schließt diese Dissertation vorzüglich eine große Forschungslücke.


Anmerkung:

[1] Unter den Werken, die die allzu deutsche Bibliografie mit Gewinn hätten bereichern können: "Historisches Wörterbuch der Philosophie" (z.B. Helmut Dubiel: Identität, Ich-Identität, in: Ebd., Bd. 4), hgg. von Joachim Ritter (†) / Karlfried Gründer, Darmstadt 1976, Sp. 147-151; Carsten Zelle (Hg.): 'Vernünftige Ärzte'. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung (= Hallesche Beiträge zur europäische Aufklärung; Bd. 19), Tübingen 2001; Fernando Vidal: Les Sciences de l'âme, XVIe-XVIIIe siècle (= Les dix-huitièmes siècles; Bd. 95), Paris 2006 (oder seine englische Übersetzung); Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718-1777) (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; Bd. 34), Tübingen 2007; Bruno Belhoste / Nicole Edelman (éds.): Mesmer et mesmérismes. Le magnétisme animal en contexte (= Histoire des savoirs), Montreuil 2015.

Claire Gantet