Kerstin Brückweh: Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 76), Berlin: De Gruyter 2015, X + 426 S., 47 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-040778-5, EUR 64,95
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J. Adam Tooze: Statistics and the German State, 1900-1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge: Cambridge University Press 2001
Die Geschichte der Statistik erlebt gegenwärtig eine erstaunliche Konjunktur: Von der Frühen Neuzeit bis in die unmittelbare Gegenwart liegen neuere Untersuchungen vor, meist zu europäischen Staaten wie Frankreich oder dem Habsburgerreich; andere Arbeiten sind im Entstehen begriffen. Zunehmend wird auch nach der Funktion der Statistik als ein Beobachtungsinstrument für die Selbstreflexion der Gesellschaften gefragt und damit auch nach ihrer Konstitutionsleistung für Gesellschaften und Staaten. In diese Forschungen fügt sich die Studie von Kerstin Brückweh ein. Ihre Studie zur "Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen" unterscheidet sich von anderen jüngeren Arbeiten in mehrfacher Hinsicht: Zum einen untersucht sie mit ca. 200 Jahren einen ungewöhnlich langen Zeitraum, und zum anderen weitet sie den Blick über die amtliche Statistik hinaus auf die Marktforschung aus. Der lange Untersuchungszeitraum stellt zwar eine erhebliche Herausforderung dar, da die britische Gesellschaft und damit der Gegenstand der Statistik in dieser Zeit einen fundamentalen Wandel durchlief. Aber der lange Zeitraum verspricht auch neue Erkenntnisse, da langfristige Kontinuitäten und Diskontinuitäten so eher in den Blick kommen können. Wenn die Verfasserin ihre Untersuchung auf die statistische Marktforschung ausdehnt, so liegt dieser Schritt zum einen in den partiell ähnlichen Methoden beider Sparten begründet, zum anderen darin, dass die Volkszählungsergebnisse auch als Basis für stichprobenbasierte Umfragen dienten. Damit versteht sich das Buch als "Wissensgeschichte der Umfragemethoden" (5) und möchte die Spezifik der statistischen Wissensproduktion nicht nur im staatlichen Bereich aufklären.
Zur britischen Statistikgeschichte - zumal des 19. Jahrhunderts - liegen bereits einige jüngere Arbeiten vor, beispielsweise von Simon Szreter, der die Verbindungen von Volkszählungen und medizinischen Diskursen sowie Gesellschaftsbildern untersucht hat. Auf diese Arbeiten kann Brückweh vor allem in den ersten Abschnitten ihrer Untersuchung aufbauen. Das erste große Kapitel widmet sich den "Akteure[n] und Methoden der Umfrageforschung", ein zweites der "Ordnung der Gesellschaft", das heißt der Frage nach dem Zustandekommen von gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien. Ein dritter Teil behandelt dann am Beispiel von "Behinderungen" und "Ethnizität" die konkreten Probleme bei der Wissensproduktion.
Der erste Abschnitt stellt zunächst die Organisationsgeschichte des General Register Office (verantwortlich für den Zensus ab 1841) und dann die "Akteure des Wissens" vor: die Registrars-General sowie die ihnen untergeordneten Statistical Superintendents, deren berühmtester Vertreter sicherlich William Farr war. Zum Vergleich mit diesem etwa 60 Personen umfassenden Personenkreis werden jene Umfrageforscher herangezogen, die im nicht-staatlichen Bereich arbeiteten, also zum Beispiel in Marktforschungsagenturen (hier wurden ca. 270 Personen ermittelt). Diese Methode ist zumindest ungleichgewichtig, da der Vergleich über weite Strecken des 19. Jahrhunderts nicht möglich ist, nahm doch die nicht-staatliche Umfrageforschung Brückweh zufolge erst in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts und dann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ihren wirklichen Aufschwung - zu einer Zeit, als für amtliche Statistiker die Stationen im General Register Office wiederum allmählich an Bedeutung verloren. Interessant wäre für eine Einschätzung der Typik der Karriereverläufe auch ein Vergleich mit synchronen Karriereverläufen in anderen Teilen der staatlichen Verwaltung gewesen - dies hätte freilich einen ungleich höheren Aufwand erfordert. Aber ungeachtet dieser Einwände sind die Ergebnisse interessant: Während bei den Registrar-Generals die Herkunft aus sozial höher gestellten Familien offenbar durchgängig wichtig war, so war dies für das Amt des eher entscheidenden Statistical Superintendent nicht so relevant. Die letzteren prägten ihre Stelle jeweils sehr lange; zwischen 1839 und 1950 waren es nur sechs Personen; William Farr allein war über vierzig Jahre Statistical Superintendent. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich dies: Diese Funktion wurde immer mehr zu einer Zwischenstation im weiteren Karriereverlauf, so dass häufig nicht einmal die Namen der Inhaber bekannt sind (insofern werden tatsächlich auch deutlich weniger als 60 Personen näher charakterisiert). Bei den nichtstaatlichen Umfrageforschern, die sich 1946 in der Market Research Society zusammengeschlossen hatten, war die soziale Herkunft ebenfalls weniger wichtig als die statistischen Fähigkeiten.
Der zweite Abschnitt dieses Kapitels widmet sich der detaillierten Untersuchung der in den verschiedenen Zählungen verwendeten Fragebögen und damit den primären materiellen Trägern des zu erzeugenden Wissens. In diesem Kapitel irritieren allein die häufigen chronologischen Sprünge und die gemeinsame Analyse von Volkszählungsfragebögen auf der einen, von Marktforschungsumfragebögen auf der anderen Seite. Denn auch wenn sich die Formulare ähneln mögen, so waren doch die Erkenntnisinteressen dieser beiden Zweige der statistischen Wissensproduktion unterschiedlich (wie auch deutlich wird). Überzeugender ist hingegen die Untersuchung des "Interviewers" oder "Zählers" als eines zunächst methodischen Problems - hier liegt in der Tat eine der grundlegenden Schwierigkeiten jeder Umfragetechnik.
Das zweite Großkapitel behandelt die Ordnung des so erzeugten Wissens und behandelt "Class" und "Raum" "als Grundlagen der Gesellschaftsklassifikation" (149). Für die verschiedenen sozialen Schichten interessierte sich das General Register Office zunächst aus Gründen der öffentlichen Gesundheit und suchte den diffusen Klassenbegriff mit Hilfe des leichter zu messenden Merkmals "Beruf" näher zu definieren. Das dann bis weit ins 20. Jahrhundert hin verwendete grobe Klassenmodell dieser Institution erwies sich jedoch angesichts des Wandels der Gesellschaft zunehmend als unangemessen, so dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Marktforschung eigene Schichtungsmodelle entwarf, die sich eher an Konsumstilen orientierten. Zu etwa derselben Zeit griff die kommerzielle Marktforschung zudem immer mehr auf ein neues Konzept zurück: das der "Nachbarschaften". Mit seiner Hilfe versuchten die Umfrageforschungsunternehmen, "ohne direkte Befragung" Individuen "in gesellschaftliche Gruppen einzuordnen" (179) - letztlich also, aus dem Wohnort und dem Straßenzug tragfähige Aussagen über Lebensstile und Konsumverhalten abzuleiten. Aber auch dieses Verfahren besaß seine Vorläufer in Kartierungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie die Verfasserin überzeugend herausarbeitet, beispielsweise in den berühmten Erhebungen von Charles Booth zu "Life and Labour of the People in London". Während das von Booth und anderen generierte Wissen indes zweifellos noch der wissenschaftlichen Sphäre zuzurechnen war, so liegen die Erhebungsgrundlagen und Klassifizierungsmethoden der privaten Forschungsinstitute unterdessen weitgehend im Dunkeln und entziehen sich so der wissenschaftlichen Diskussion.
Der dritte große Abschnitt schließlich vertieft anhand zweier Fallstudien die bisher gewonnenen Erkenntnisse. Diese Kapitel gehören meines Erachtens zugleich zu den innovativsten des Buchs, insbesondere der erste Unterabschnitt zu den Erhebungen verschiedener "Behinderungen" (vor allem Gehörlosigkeit und geistige Krankheiten), nach denen zwischen 1851 und 1911 in den Zensus gefragt worden ist. Hier gelingt es Brückweh, die nur selten mögliche Verbindung zwischen den Volkszählungsfragebögen und den in zwei Anstalten erfassten Patienten herzustellen. Es wird beispielsweise deutlich, dass die Patienten im Fall der Gehörlosigkeit durchaus Wert darauf legten, als leistungsfähige Mitglieder der Gesellschaft angesehen zu werden. Im Fall der "lunatics" kann Brückweh ebenfalls einige Insassen einer privaten Heilanstalt mit ihrer Erfassung in den Volkszählungen korrelieren. Hier werden die unscharfen Kriterien der Krankheitszuweisung ebenso erkennbar wie der bisweilen große Einfluss der jeweiligen Familie, wenn es darum ging, stigmatisierende Krankheitsbezeichnungen zu vermeiden. Interessant wäre in diesem Abschnitt noch eine stärkere Rückbindung an die Entwicklung der Psychiatrie in Großbritannien und deren Klassifizierungsschemata psychischer Erkrankungen gewesen - gerade auch in transnationaler Perspektive (man denke an die deutsche Psychiatrie und ihre enge Kooperation mit statistischen Büros im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts; im Fall der Gehörlosigkeit wird der transnationale Aspekt durchaus behandelt). Gleichwohl kann die Autorin mit Hilfe dieses direkten Abgleichs zweier verschiedener Erfassungen desselben Personenkreises die in diesem Fall begrenzte Aussagekraft der Zensus sehr plausibel deutlich machen. Die interessanten Kontroversen um die Begriffe von "race" und "ethnicity", die die Volkszählungen im 20. Jahrhundert prägten und die ebenfalls die Grenzen vermeintlich scharfer kategorialer Abgrenzungen ersichtlich werden lassen, können hier nur angedeutet werden.
Insgesamt handelt es sich bei dieser Arbeit um eine verdienstvolle Untersuchung über wichtige Entwicklungen der britischen Statistik seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit der Analyse der Erhebungspraktiken und einigen Tiefenbohrungen (hier insbesondere zur Frage der "Behinderungen") betritt die Autorin zudem neues methodisches Terrain. Da die Kategorisierungen der Volkszählungen wie auch ihre Ergebnisse von der kommerziellen Umfrageforschung aufgegriffen worden sind und deren Fragestellungen beeinflussten, wird auch die wichtige Frage nach der tatsächlichen Wirkungsmacht des vom Staat bereitgestellten statistischen Wissens behandelt. Diese Wirkungsmacht auch hinsichtlich der Handlungslogiken und Praktiken anderer Institutionen in den Blick zu nehmen (und dies nicht nur für Großbritannien zu tun), ist meines Erachtens eine zentrale Aufgabe künftiger Forschungen zur Geschichte der Statistik. Für diese Perspektiven sensibilisiert zu haben, ist ein wichtiges Verdienst der Arbeit.
Michael C. Schneider