Rezension über:

Christian Bouchet / Pascale Giovannelli-Jouanna: Isocrate. Entre jeu rhétorique et enjeux politiques (= Collection Études et Recherches sur l'Occident Romain - CEROR; 47), Paris: de Boccard 2015, 415 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-2-36442-057-1, EUR 36,00
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Rezension von:
Wolfgang Orth
Bergische Universität, Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Orth: Rezension von: Christian Bouchet / Pascale Giovannelli-Jouanna: Isocrate. Entre jeu rhétorique et enjeux politiques, Paris: de Boccard 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/05/27762.html


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Christian Bouchet / Pascale Giovannelli-Jouanna: Isocrate

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Vom 5. bis 7. Juni 2013 fand in der Universität Jean Moulin Lyon 3 ein internationales Isokrates-Kolloquium statt, veranstaltet vom Forschungszentrum 'Histoire et Sources des Mondes Antiques' (HiSoMA), das in Lyon unter dem Dach der Maison de l'Orient et de la Méditerranée etabliert ist.

Als Themaschwerpunkt des hier anzuzeigenden Tagungsbandes wird in der Einleitung von Maddalena Vallozza die Verbindung von Rhetorik und Politik bei Isokrates benannt. Die Beiträge sind in zwei Gruppen angeordnet: Im ersten Hauptteil geht es um Text und rhetorische Funktion, der zweite Hauptteil ist mit 'Politische Philosophie' überschrieben. Es zeigt sich freilich, dass strenge Unterscheidung in diesem Sinn nicht immer gelingen konnte. Politische Philosophie spielt auch im ersten Teil eine Rolle, Rhetorik wird auch im zweiten Teil erörtert. Tatsächlich geht das, was dem Leser des Bandes geboten wird, insgesamt noch deutlich über die genannten Vorgaben hinaus; das Themenspektrum reicht von der direkten Interpretation einzelner Werke [1] über die Behandlung übergreifender sachlicher Ansätze und Leitgedanken [2] und die Analyse der rhetorisch-pädagogischen Strategie [3] bis zur Wirkungsgeschichte bestimmter Ideen. [4] Die auf die Deutung des gedanklichen Gehalts der isokratischen Schriften bezogenen Beiträge werden eingerahmt durch zwei Texte, in denen es um ergänzende Sachinformation geht. [5]

Nach Fachzugehörigkeit der Autoren - mehrheitlich sind sie lange schon aufgrund einschlägiger Forschungen als hervorragende Experten ausgewiesen - halten sich Alte Geschichte (Griechische Geschichte) und Klassische Philologie fast die Waage, mit je einem Beitrag sind auch Philosophie und Antike Rechtsgeschichte vertreten. Von der Ausnahme eines einzigen englischen Textes abgesehen sind die Beiträge allesamt in französischer oder italienischer Sprache verfasst.

Der Autor Isokrates hat nach sehr verbreiteter Hochschätzung im Altertum in der neueren Zeit nicht selten zwiespältige Reaktionen hervorgerufen. An negative Bewertungen durch Niebuhr, Wilamowitz u. a. konnte in unserer Gegenwart Kritik anknüpfen, die die inhaltlich-argumentative Substanz der isokratischen Schriften mit ihrem hohen intellektuell-moralischen Anspruch aus verschiedenen Gründen in Zweifel zu ziehen geneigt war. Demgegenüber darf das von Christian Bouchet und Pascale Giovannelli-Jouanna herausgegebene Werk als ein beeindruckendes Plädoyer bezeichnet werden, in dem durch sorgfältige Detailinterpretationen, eingehende Begriffsanalysen und Aufdeckung von Motivzusammenhängen und gedanklichen Beziehungen das Bild des Verfassers profilierte Kontur gewinnt.

In beispielhafter Weise soll dies hier durch Hinweis auf einige Themenfelder verdeutlicht werden, die dem Leser über den ganzen Band hin wiederholt begegnen: Politische und literarische Zielsetzung - Problematik des Rat-Erteilens - Bildungsprogramm. Die Aufgabe einer angemessenen Interpretation isokratischer Aussagen wird, wie sich zeigt, freilich dadurch erschwert, dass der Autor immer wieder einmal auch doppeldeutige oder verschleiernde Formulierung als rhetorisches Mittel einsetzt (Chiron 66 und 69; Demont 78 und 80; Giovannelli-Jouanna 86-91; 105; Azoulay 118 f.; Levet 318).

Was Isokrates mit seinen inhaltlich und formal ausgefeilten Schriften erstrebte, hat er zum Teil in Texten zum Ausdruck gebracht, die apologetische Selbstdarstellung enthalten (Giovannelli-Jouanna 93-101), unausgesprochene Absichten lassen sich darüber hinaus auch sonst indirekt aus mehreren Werken erschließen (Levet 310 und 318). Demnach ging es dem Autor darum, den Nutzen Athens (und anderer Städte) zu mehren; soweit hier etwas erreicht worden sei, steht das nach seiner Überzeugung als bleibenden Nachruhm begründende Leistung nicht hinter dem zurück, was hochangesehene Gesetzgeber alter Zeit ihren Städten hätten zuteil werden lassen (Olivier 293).

Dabei macht das Erteilen von gutem Rat den Wesenskern der Aufgabe aus (Olivier 301). Ratgeben ist nun freilich gerade kein wissenschaftlich abgesichertes Verfahren (Hourcade 144 f.; Levet 309). Der Ratgebende soll vor allem Denkprozesse in Gang setzen, beim Einzelnen ebenso wie in der Gesellschaft insgesamt. Ziel der Lehrtätigkeit des Isokrates ist es, gute Ratgeber heranzubilden.

Lehrmethode und Bildungsprogramm werden von Isokrates allerdings nicht offengelegt. Klar ist jedenfalls, dass das Lehrverfahren über bloße rhetorische Schulung im technischen Sinn weit hinausgeht (Hourcade 140). Schlüsselbegriffe sind in diesem Zusammenhang φιλοσοφία, φρόνησις und δόξα. In einem kreativen, interaktiven Prozess (Vallozza 11) werden in der 'Schule' des Isokrates Texte studiert, es wird in der Erörterung von Problemen und im Formulieren von Argumenten kritisches Urteil gefördert (Levet 317); dabei soll die unablässige Orientierung an Prinzipien des Wahren, Guten und Schönen (Nicolai 130; Levet 311-315) eine Art Seelenformung bewirken (Hourcade 140).

Die hier vertretene Ansicht, dass es bei Isokrates im beständigen Bemühen, sich an die Wahrheit anzunähern, keinen Relativismus gebe (Levet 311; auch Nicolai 130), steht freilich doch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der Tatsache, dass in seinem Werk immer wieder Verfälschung von Mythos und Geschichte nachzuweisen ist (Alexiou 47 f.; Bianco 233 f.; Cannavò 241-244; Lenfant passim). Als relativierend urteilender politischer Beobachter erscheint Isokrates im übrigen auch in der Beantwortung der Frage nach der 'besten Verfassung' (Alexiou 53; Bouchet 158 und 160; Birgalias 221; Lévy 263-268).

Ausbildung der φρόνησις wird diese intellektuelle Schulung genannt, Isokrates fasst das von ihm praktizierte Bildungssystem unter den Leitbegriff der φιλοσοφία, einer Philosophie, die freilich untrennbar mit dem Leben verbunden ist (Giovannelli-Jouanna 102; Hourcade 145; Olivier 285 und 291). Von grundlegender Bedeutung ist bei alledem die δόξα - ein griechischer Begriff, der in anderen Sprachen kein Äquivalent hat und den Isokrates in verschiedenen Sinnzusammenhängen aufscheinen lässt: als jeweils herrschende Meinung im banalen Sinne, die jeder öffentlich Tätige als fundamentalen Faktor in der Realität des Politischen zu berücksichtigen hat; als gereiftes Urteil des weisen Redners, das in epideiktischen Texten zum Ausdruck kommt und durch das er auf Individuen und Städte erzieherisch einzuwirken vermag (Nicolai 129; Levet 310-313); und als Renommee, das die Autorität eines Ratgebers stützt und das deshalb für diesen als erstrebenswert gelten muss (Hourcade 144; Olivier 292; Levet 314).

Der Tagungsband mit seinen durchweg sorgfältig durchgearbeiteten Beiträgen stellt eine hochwillkommene Ergänzung und Vertiefung der neueren Forschungen zum perspektivenreichen Werk des Isokrates dar. Ein besonderes Lob verdient, dass der Inhalt des Buches durch ausführliche Indices (331-354: Quellenstellen; Namen; Sachen) sehr gut erschlossen wird; beigegeben ist auch eine 32-seitige Bibliographie.


Anmerkungen:

[1] Gerichtsreden: Alberto Maffi; Über das Pferdegespann: Bernard Eck; Euagoras: Evangelos Alexiou; Areopagitikos: Paul Demont; Panathenaikos: Pierre Chiron.

[2] Selbstrechtfertigung: Pascale Giovannelli-Jouanna; Werturteile über Verfassung und deren Institutionen innerhalb und außerhalb Athens: Alexandra Bartzoka; Cinzia Bearzot; Marco Bettalli; Christian Bouchet; Nikos Birgalias; Edmond Lévy.

[3] Rhetorische Pädagogik als Philosophie: Jean-Pierre Levet; Theorie des Diskurses: Roberto Nicolai; Doppeldeutigkeit als rhetorisches Mittel: Vincent Azoulay; Instrumentalisierung von Geschichte und Mythos: Gianluca Cuniberti; Elisabetta Bianco; Anna Cannavò; politische und ethische Dimension des Ratgebens: Annie Hourcade; pragmatisch-engagierte Komponente der Veröffentlichungen: Hélène Olivier.

[4] Einfluss auf das neuzeitliche Bild der griechischen Geschichte: Dominique Lenfant.

[5] Zur Geschichte der handschriftlichen Überlieferung: Stefano Martinelli Tempesta; und zum Schülerkreis des Isokrates: Massimo Pinto.

Wolfgang Orth