Rezension über:

Lucie Laumonier: Solitudes et solidarités en ville. Montpellier, mi XIIIe - fin XVe siècles (= Histoires de famille. La parenté au Moyen Âge; 20), Turnhout: Brepols 2015, 426 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-55499-0, EUR 79,00
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Rezension von:
Gisela Naegle
Gießen / Paris
Redaktionelle Betreuung:
Jessika Nowak
Empfohlene Zitierweise:
Gisela Naegle: Rezension von: Lucie Laumonier: Solitudes et solidarités en ville. Montpellier, mi XIIIe - fin XVe siècles, Turnhout: Brepols 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/05/29258.html


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Lucie Laumonier: Solitudes et solidarités en ville

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Die von Lucie Laumonier vorgelegte Publikation knüpft an eine 2013 an den Universitäten Sherbrooke, Kanada und Montpellier 3 eingereichte Dissertation zum Thema "Vivre seul à Montpellier à la fin du Moyen Âge" an. Auf ein Vorwort von Kathryn L. Reyerson folgen eine Einleitung, fünf thematische Kapitel, Conclusions, bibliographische Angaben, ein Anhang mit Quellentexten und zwei Register zu Personen / Orten und thematischen Stichworten. Das erste Kapitel stellt das Thema der alleinlebenden Personen und die Methodik der Studie vor. Die weitere Kapitelabfolge des Buches orientiert sich an den menschlichen Lebensaltern: Kindheit und Jugend (Kapitel 2), der Übergangszeit des jungen Erwachsenenalters (Kapitel 3), alleinlebenden Erwachsenen ohne Ehepartner und Nachkommen (Kapitel 4) und dem Alter und der Furcht vor Einsamkeit (Kapitel 5).

Gegenstand des Buches ist die "solitude", ein Ausdruck, der im Französischen unterschiedliche Bedeutungen haben kann: 1. die Tatsache des physischen Alleinseins / Alleinlebens; 2. das Gefühl, allein zu sein oder sich einsam zu fühlen; 3. den bewussten Rückzug aus der Welt im geistlichen Sinn (zum Beispiel als Eremit oder im Kloster) (15, 16). Es handelt sich dabei, anders als bei den "Jungen" oder den "Witwen", nicht um eine mittelalterliche Kategorie. Zu den Ausgangshypothesen gehört, dass Alleinleben in Abhängigkeit vom Lebensalter besondere Züge aufweise.

Am Anfang steht eine kurze Vorstellung Montpelliers in der Zeit von 1250 bis zum Ende des 15. Jahrhunderts und damit der Rahmenbedingungen. Montpellier wurde am Ende des 10. Jahrhunderts gegründet und entwickelte sich am Anfang des 13. Jahrhunderts zum Consulat. Die Stadt stand zeitweise unter der Herrschaft der Könige von Aragón und Mallorca, bevor sie in das französische Königreich eingegliedert wurde. Für ihre Wirtschaft waren der See- und Mittelmeerhandel entscheidend, besonders der Handel mit Gewürzen und der Tuchexport. Hinzu kam eine bedeutende Universität, die vor allem für Medizin einen guten Ruf genoss. Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung hatte Montpellier ungefähr 35 000 Einwohner. Nach einer Blütezeit, am Anfang des 14. Jahrhunderts, wurde es schwer von den Krisen des Spätmittelalters und Epidemien wie der Pest getroffen und es erholte sich seit dem Ende des ersten Drittels des 15. Jahrhunderts nur langsam.

Die Untersuchung stützt sich auf eine breite Basis unterschiedlicher Quellen, zu denen neben fiskalischen Registern auch die Überlieferung von Notaren, 564 Testamente und erzählende Quellen gehören. Für Montpellier liefert der Petit Thalamus wichtige Hinweise auf Epidemien. 1348 erreichte erstmals die Pest die Stadt, und ab diesem Zeitpunkt führten Seuchen zu einem starken Anstieg der Zahl alleinlebender Personen. In den 1430er Jahren begann sich die Bevölkerung wieder zu stabilisieren. Bei den erfassten Abgabenzahlern lag der Anteil der Alleinlebenden ca. bei 10%, bei den durch Testamente greifbaren Erblassern bei etwa einem Viertel, wobei dieser hohe Prozentsatz Verzerrungseffekten durch die Besonderheiten der jeweiligen Quellengattung unterliegt. Fiskalische Quellen erfassen Haushaltsvorstände (chefs de feu) und lassen alleinlebende Witwen oft als solche erkennbar werden. Dies gilt aber nicht in gleichem Maße für Witwer. Männer werden in der Regel über ihren Beruf, Frauen über ihren Familienstand (als Ehefrau, Tochter, Witwe) gekennzeichnet.

Bezüglich des Alleinseins von Kindern und Jugendlichen kommt die Autorin zu dem Ergebnis, es habe sich in der Regel nur um einen kurzfristigen Zustand gehandelt, da verwaiste oder von ihren Eltern oder der ledigen Mutter verlassene Kinder möglichst rasch durch Verwandte, karitative Einrichtungen oder, auf Vermittlung des Consulat, in Pflegefamilien aufgenommen wurden. Jugendliche, auch von auswärts, absolvierten häufig eine Lehre. Sie lebten dann oft im Haushalt des Lehrherrn. Junge Leute aus dem Umland absolvierten ihre Ausbildung in Montpellier, für besonders gefragte Handwerke wurden denjenigen, die eine Einheimische heirateten und sich dauerhaft in Montpellier niederlassen wollten, vor allem nach den durch Epidemien ausgelösten demographischen Einbrüchen, Vergünstigungen gewährt.

Besonders intensiv waren die Bemühungen, ein Alleinleben von jungen Mädchen und Frauen zu verhindern, da dieser Zustand als besonders gefährlich für ihre Ehre und Sicherheit angesehen wurde. Für beide Geschlechter endete die Phase des Alleinlebens vor allem durch die Eheschließung und, bei Männern, durch die wirtschaftliche Eigenständigkeit und die volle Integration ins Berufsleben, die eine Familiengründung ermöglichte. Im Erwachsenenalter waren die meisten alleinlebenden Personen Witwen oder Witwer. Die hohe Kindersterblichkeit führte zu einer erheblichen Zahl kinderloser Ehepaare. Manche von ihnen nahmen Pflege- oder Adoptivkinder auf. Bei jüngeren Witwen und Witwern waren erneute Eheschließungen weit verbreitet. Der Verlust des Ehepartners brachte ein erhöhtes Risiko mit sich, zu verarmen. Für Witwen galt dies noch weitaus mehr als für Witwer. Wer keine eigenen Kinder hatte, bemühte sich intensiver um Neffen, Nichten und Patenkinder. Die Beziehungen zu Geschwistern, oder bei völligem Fehlen eigener Familienangehöriger auch zu Nachbarn, wurden dann ebenfalls wichtiger. Mit zunehmendem Lebensalter wurden in Testamenten immer stärker die folgenden Generationen bedacht. Alleinstehende und vor allem Kinderlose berücksichtigten in ihren Testamenten häufiger karitative Einrichtungen oder bestimmte Personengruppen, wie arme verwaiste Mädchen, die Beihilfen für ihre künftige Heirat erhielten. Neben dauerhafter Einsamkeit gab es, insbesondere durch die mit Kaufmannsreisen und Seehandel verbundenen Risiken und Gefangenschaften oder durch Inhaftierungen, auch zeitweise Trennungen.

Am risikoreichsten und dauerhaftesten war Einsamkeit im Alter, die oft mit Armut verbunden war. Zur Vorbeugung wurden von den Betroffenen selbst mitunter Regelungen getroffen, die einem verwitweten Elternteil ein Auskommen und ein gemeinsames Wohnen mit einem der Kinder oder anderen Verwandten sicherten. Testamente enthielten häufig besondere Klauseln für den Fall einer Wiederverheiratung. In Bezug auf die Abfassung von Testamenten eröffnete das örtliche Recht den Erblassern erhebliche Spielräume. Die Aufnahme in ein Hospital oder die Arbeit in einer solchen Einrichtung stellte eine weitere Möglichkeit dar, wieder in einer Gemeinschaft zu leben.

Insgesamt handelt es sich um ein sehr gut lesbares, flüssig geschriebenes Buch. Besonders bemerkenswert ist, dass die für Montpellier erzielten Ergebnisse durch eine ausführliche Berücksichtigung der für andere Städte und Regionen ermittelten Befunde in einen breiten Kontext gestellt werden, der ihre bessere Einordnung ermöglicht. Dazu wird umfangreiche Vergleichsliteratur herangezogen. Besonders interessant sind Ausführungen zur Luxus- und Aufwandsgesetzgebung und zur Regelung von Mündigkeit durch die Coutume, zur Waisenfürsorge durch das Consulat, zu karitativen Stiftungen und zur Sozialtopographie / zu den Wohnverhältnissen. Verdienstvoll ist ebenfalls, dass sich der Blick auch auf die Lage von Witwern richtet.

Gisela Naegle