Rolf Wörsdörfer: Vom "Westfälischen Slowenen" zum "Gastarbeiter". Slowenische Deutschland-Migrationen im 19. und 20. Jahrhundert (= Studien zur Historischen Migrationsforschung; Bd. 33), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 491 S., ISBN 978-3-506-78603-6, EUR 58,00
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Das ursprünglich mit dem Untertitel "vergleichende Kulturgeschichte slowenischer Deutschland-Migrationen im 19. und 20. Jahrhundert" versehene Projekt versucht der Autor einzugrenzen. Ein schwieriges Unterfangen! Wissenschaftsgeschichtlich verortet er das Thema zwischen Migrations- und Nationalismusforschung, Arbeiter- und Katholizismusgeschichte. Das Mammutprojekt bewegt sich zusätzlich zwischen vielen verschiedenen Räumen, schließt beide Weltkriege mit ihren Grenzverschiebungen und Systemwechseln ein. Alte Reiche gehen unter, neue Staaten tauchen auf der Landkarte auf. Ehrfurcht, aber gleichzeitig auch die Frage nach der Machbarkeit der in jeder Hinsicht grenzüberschreitenden Studie begleiten die Leser von der ersten bis zur letzten der fast 500 Seiten.
Wörsdörfer offenbart gleich zu Anfang mit der Frage nach der Zuordnung der südslawischen Migranten zur slowenischen Nation die Vielschichtigkeit seines Themas. Die Arbeitswanderer und -wanderinnen werden von innen und außen auch als "Krainer", "Steirer", Prekmurerinnen", "Österreicher" oder "Jugoslawinnen" (15) betrachtet. Das Buch findet abseits gewohnter Pfade einen geschickten Einstieg in das Thema der slowenischen Wanderungsbewegungen in verschiedene deutsche Industrieregionen über zwei Reisegeschichten. Der Politiker und Theologe Janez Evangelist Krek (1865-1917) reiste 1899 mehrere Wochen durch das preußische Ruhrgebiet. Heftig angefeindet als "slawischer Agitator" (17) begab er sich in die multinationale, soziale und konfessionelle Gemengelage der Zechensiedlungen des Reviers. Neben den bekannten Ruhrpolen fanden sich hier auch Tschechen und eben Slowenen.
Letztere stammten überwiegend aus den habsburgischen Kronländern Krain und Steiermark. Sie verwandelten sich im Rahmen dichter Netzwerke, deren Basis die zahlreichen katholischen Vereine bildeten, allmählich zu "Westfälischen Slowenen". Vier Generationen später besuchte Stane Kavčič (1919-1987) Bayern. Im Zentrum stand das Gebiet um Ingolstadt mit Audi, wohin es nach dem deutsch-jugoslawischen Anwerbeabkommen von 1968 Tausende von Migranten aus Slowenien gezogen hatte. 1972 beschäftigte allein Audi bereits über 1000 Slowenen. Der Reisende war kein Priester, sondern ein führender kommunistischer Reformpolitiker der jugoslawischen Teilrepublik Slowenien. Kritik über seinen Besuch kam diesmal von anderer Seite, aus Jugoslawien selbst, wo Teile der politischen Klasse einen zu engen Anschluss Sloweniens an Westeuropa befürchteten.
Der Einstieg in die komparatistische Studie durch das Prisma der beiden Reiseberichte öffnet den Blick auf vier große Räume: das cisleithanische Österreich und das rheinisch-westfälische Preußen, Jugoslawien - das Königreich und die sozialistische Republik -, sowie das mittelbayerische Donaugebiet. Wörsdörfer wagt einen Längsschnitt: von der slowenisch-österreichischen Bergarbeitermigration im Deutschen Reich bis 1941 bis zu den slowenischen Wanderungsbewegungen in die süddeutschen Industriegebiete; schwerpunktmäßig wird hier auf Ingolstadt fokussiert. Der Autor hebt mehrere Zäsuren hervor: 1914 und 1933, dann das Anwerbeabkommen von 1968, die Ölkrise 1973, das Jahr 1991 und schließlich die Staatsgründung Sloweniens. Die Idee der vergleichenden kulturgeschichtlichen Darstellung slowenischer Deutschland-Migrationen über 100 Jahre hält der Autor nicht durch. Die Konzeption der Arbeit macht dieses Vorhaben unmöglich. Bis zum sechsten der insgesamt zehn Kapitel arbeitet Wörsdörfer die Situation der Herkunftsgebiete der slowenischen Migranten sowie ihres Migrationsziels - des Ruhrgebiets - heraus, analysiert nationale, religiöse und kulturelle Konzepte, zeigt Migration im Kaiserreich und der Weimarer Republik im Spannungsfeld von Krieg, Krisen und Loyalitäten. Sporadisch streut der Autor hier Vergleiche zu Mobilisierungs- und Integrationsformen slowenischer Migranten in Ingolstadt viele Jahrzehnte später ein. Mit einer Orientierung Wörsdörfers an der Terminologie der Migrationsforschung hätte eine durchgehend vergleichende Studie an Prägnanz und an Lesbarkeit gewonnen.
Aufzeigen kann man dies am Beispiel des der Migrations- und Integrationsforschung immanenten Begriffs Heimat. Der Autor handelt das vielgestaltige Thema ohne Präzisierung des Begriffs im Rahmen seiner ausführlichen Darstellung zum slowenischen Vereinswesen im Ruhrgebiet ab. Der Dreiklang "Verein, Pfarrei und Siedlung" (152) könne als Heimat interpretiert werden. Heimat sei außerdem ein dominanter Begriff in den Quellen zum deutschen und slowenischen Katholizismus. Auch die aus den Forschungen zu Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg bekannte Aufspaltung von Heimat und Zuhause finden wir bei den Slowenenpriestern wieder - "im Sinne einer Präsenz der Bergarbeiterfamilie in zwei Heimaten, Westfalen und Slowenien" (174). Heimat beschreibt längst nicht nur einen konkreten Ort, der Begriff reflektiert bedeutende historische, psychologische und kulturelle Komponenten. Heimat kann auch Grenzen zwischen den Generationen markieren. All dies scheint zwar in Wörsdörfers Studie auf, geht aber in einer unglaublichen Fülle von Material unter, von der sich die Arbeit dominieren lässt. So geraten auch interessante Kontinuitätslinien zur Nebensache. Offensichtlich plagten die Menschen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts nämlich ähnliche Ängste vor Einwanderern wie heutzutage. Insbesondere die vielen allein reisenden, unverheirateten jungen Männer schürten Ängste.
Die Darstellung der Nachkriegszeit wird von einem Kapitel über die Repatriierung und Remigration eingeleitet. Wenngleich die Begriffe nicht akkurat voneinander abgegrenzt werden, wird doch an den Ruhrslowenen deutlich, dass Migration, Remigration und schließlich eine erneute Rückkehr nach Deutschland eher die Regel als die Ausnahme waren. Migration als Lebensthema!
Der letzte Teil der Studie über die slowenische Einwanderung nach Ingolstadt ist deutlich strukturierter und weniger detailüberladen als die Darstellung über die Migration an die Ruhr. Dies ist nicht zuletzt der von Wörsdörfer vielzitierten Forschungsarbeit von Thomas Schlemmer zu verdanken, die hervorhebt, dass die Geschichte der Audi AG sehr eng mit den unterschiedlichen Migrationsbewegungen verknüpft ist. [1] Die Slowenen selbst wurden jedoch lange Zeit als Jugoslawen wahrgenommen. Dies änderte sich erst mit der Städtepartnerschaft zwischen Ingolstadt und Murska Sobota, die nach einer langen Anbahnungsphase 1979 institutionalisiert worden ist. Zahlreiche Zeitzeugeninterviews öffnen den Blick auf das weite Feld der Integration der Slowenen in Ingolstadt. Wörsdörfer arbeitet die sozialen und vor allem psychosozialen Probleme der Arbeitsmigranten heraus, die zumindest in der ersten Generation zwischen Heimat, bisweilen zurückgebliebener Familie und Arbeit pendelten. Die "gespaltene Festkultur" (407) der neuen Bewohner Ingolstadts verändert(e) auch die Traditionen der Stadt. Heute ist es selbstverständlich, dass Internationaler Frauentag und Muttertag gefeiert werden. Integration ist kein einseitiger Prozess.
Ein Mangel der vorliegenden Studie ist die fehlende terminologische Anbindung an den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs zum Thema Migration (Generation, transnational und transkulturell, Identität). So ist der rote Faden vielfach unterbrochen und der Leser muss sich ziemlich mühsam zwischen der Mikro-, Meso- und Makroebene sowie der ungeheuren Menge an Details einen Weg bahnen. Gleichzeitig beeindruckt der Autor durch seine enorme Quellenarbeit, die uns den Alpen-Adria-Raum über 100 Jahre erschließt, zeigt, wie aus Österreichern Jugoslawen und endlich Slowenen werden. Und Wörsdörfer zeigt noch etwas: Migration ist Teil der Geschichte deutscher Firmen, Städte und Regionen.
Anmerkung:
[1] Thomas Schlemmer: Industriemoderne in der Provinz. Die Region Ingolstadt zwischen Neubeginn, Boom und Krise 1945 bis 1975, München 2009.
Susanne Greiter