Andreas Weigelt / Klaus-Dieter Müller / Thomas Schaarschmidt u.a. (Hgg.): Todesurteile sowjetischer Militärtribunale gegen Deutsche (1944-1947). Eine historisch-biographische Studie (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; Bd. 56), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 487 S., 1 CD-Rom, ISBN 978-3-525-36968-5, EUR 69,99
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Klaus Marxen / Moritz Vormbaum / Gerhard Werle: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz, 2. Aufl., Berlin: De Gruyter 2020
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Klaus-Dieter Müller (Hg.): Das Tagebuch des Levan Atanasjan. Erinnerungen eines ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009
Es ist ein dickes Buch mit 488 Druckseiten und einer zusätzlich beigelegten CD, auf der sich 2.469 Kurzbiographien von Menschen befinden, die Opfer Sowjetischer Militärtribunale (SMT) wurden. Und es ist ein wichtiges Buch, schließt es doch trotz bereits vorliegender Forschungen eine Dokumentationslücke: Von den SMT wurden im Zeitraum von 1944 bis zur Abschaffung der Todesstrafe in der sowjetischen Rechtsprechung im April 1947 mindestens 3.301 Todesurteile gegen Deutsche ausgesprochen. Wer das war und was die Hintergründe waren, dem will dieses Buch auf den Grund gehen.
Die Problemlage ist für Außenstehende noch immer diffus. Die Urteile sowjetischer Militärtribunale sind hauptsächlich deswegen in Erinnerung geblieben, weil sie 1949 massenhaft gegen deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion verhängt wurden, von denen daraufhin zahlreiche noch Jahre in der Sowjetunion bleiben mussten. Adenauer holte sie 1955 nach Hause und beendete damit ein dunkles Kapitel stalinistischer Vergangenheit - so die zeitgenössische Wahrnehmung. In denselben zehn Nachkriegsjahren aber waren in der SBZ/DDR rund 35.000 Deutsche von SMT verurteilt worden. Viele der Verurteilten verschwanden in Speziallagern des NKWD auf deutschem Boden, einige auch im GULag in der Sowjetunion. Nach ihrer Entlassung tauchten zahlreiche von ihnen nach und nach in der Bundesrepublik als politische Flüchtlinge auf. In Organisationen wie der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" organisierten sie sich und führten ihren zum Teil sehr persönlichen Kampf gegen SED-Diktatur und "den Stalinismus" fort. Ebenso blieben zahlreiche SMT-Verurteilte nach ihrer Haftentlassung, zum Schweigen über ihr Schicksal gezwungen, in der DDR. So brach nach dem Ende der DDR eine Debatte über Verurteilungen und Inhaftierungen im sowjetischen Machtbereich auf. Inzwischen ist die öffentliche Erregung der ehemaligen Opfer und ihrer Angehörigen abgeklungen. Das vorliegende Buch leistet - mit der gebotenen Nüchternheit wissenschaftlicher Dokumentationen - einen wesentlichen Beitrag zu dieser Diskussion.
Sehr klug positionieren die Herausgeber in der Einleitung ihre Ergebnisse. Bei den hier dokumentierten zum Tode Verurteilten könne nicht pauschal von "Opfern des Stalinismus" gesprochen werden. Denn ein selbst für sie überraschendes Ergebnis der Studie sei, dass "mehr als zwei Drittel" der Todesurteile zwischen 1944 und 1947 auf Verurteilungen wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zurückgingen. Daraus ergibt sich, dass es sich mitnichten um Urteile gegen Unschuldige handelte. Durchaus konsequent ist daher auch die nachfolgende Abgrenzung, dass das vorgelegte Werk "weder ein Gedenk- noch ein Opferbuch" sei, sondern eine möglichst nüchterne Bestandsaufnahme. Die Herausgeber wünschen sich eine Verortung ihrer Dokumentation im Themenfeld der "Transitional Justice". Obgleich diese durch Aufarbeitung der Verbrechen diktatorischer Regime den Übergang in demokratische Verhältnisse bezeichne, was man für den sowjetischen Machtbereich nach 1945 nicht behaupten könne, sei es doch eine Form der Bewältigung von NS-Verbrechen. Für die Zeitgenossen war das nicht zu erkennen, da fast alle Prozesse im Geheimen abgehalten und die Angehörigen der Hingerichteten nicht informiert wurden. Selbst die Suchdienste, einschließlich des sowjetischen Roten Kreuzes, konnten bis zur Öffnung sowjetischer Archive in den 1990er Jahren lediglich verzerrte Angaben über das Verschwinden der Verurteilten machen.
Die Einleitung macht deutlich, warum der biographische Teil des Buches so umfangreich ist: Es müssen Namen, Funktionen und Verantwortlichkeiten der Verurteilten geklärt werden. 258 Seiten umfasst die von Andreas Weigelt angefertigte Fallgruppenübersicht und das Erschließungsregister, weitere 30 Seiten das Personenregister und 784 Seiten die Biographien auf der beigefügten CD. Das Ganze hat eine beachtliche Erschließungstiefe und stellt ein auf Basis aller heute verfügbaren Quellen geschaffenes, einmaliges Nachschlagewerk dar.
Schwierig wird es mit den quantitativen Angaben. Jeder Autor in dem Buch bezieht sich in seinem Beitrag auf eine andere Ausgangsbasis. In ihrer Einleitung reden die Herausgeber noch von 3.301 ermittelten Todesurteilen, von denen 2.542 vollstreckt wurden. Weigelt aber nennt in seiner Vorbemerkung zu dem auf der CD beigefügten Biographieanhang 2.471 vollstreckte Urteile und 759 Begnadigungen (die aber nicht in dem Biographieteil aufgenommen wurden) - zusammen macht das 3.230 Todesurteile. Er nennt im Weiteren diverse Grenzfälle der Erfassung, die bei einer personenbezogenen Dokumentation dieser Art unvermeidlich sind. An dieser Stelle hätte man sich eine sprachliche und in der zahlenmäßigen Aufschlüsselung präzisere Darstellung gewünscht.
Eine völlige Schräglage erhält die quantitative Auswertung in dem Beitrag von Klaus-Dieter Müller, der mit 22 Schaubildern und Diagrammen für den schnellen Überblick hätte sorgen können. Einleitend präsentiert Müller eine dritte Version: In der Datenbank des Projekts gebe es 3.296 erfasste Todesurteile, von denen aber in seinen weiteren Überlegungen nur 3.255 berücksichtigt werden (die übrigen werden als Nicht-Deutsche nicht in die Auswertung einbezogen). 2.542 Urteile wertet Müller als tatsächlich vollstreckt, woraus sich 713 Begnadigungen ableiten lassen. Und er macht die folgenschwere Ankündigung, dass in seinen Schaubildern von unterschiedlichen Fallzahlen ausgegangen werde. Stimmen Müllers Ausgangsdaten quantitativ schon nicht mit denen seiner Kollegen überein, verschieben seine Diagramme die Relationen mitunter beträchtlich. Konsequent unterschlägt er, dass es zu vielen der von ihm abgefragten Kategorien wie Alter, Verhaftungs- oder Verurteilungsdatum, Urteilsbegründung usw. in der Projektdatenbank nicht durchgängig zu allen Urteilen Angaben gibt. Dies hätte mit der Kategorie "keine Angaben" in die Gesamtbetrachtung einbezogen werden müssen. So aber nimmt die von Müller herangezogene - und immer in absoluten Zahlen ausgewiesene - Ausgangsmenge häufig nur zwischen 60 und 80 Prozent der Gesamtmenge in den Blick. Besonders eklatant ist diese Unsauberkeit bei der Formulierung der zentralen Erkenntnis dieser Publikation, "mehr als zwei Drittel" aller Todesurteile seien als Verurteilung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgesprochen worden. Die genauere Prüfung dieser Relation ergibt jedoch, dass dabei die Verurteilten in der Projektdatenbank ignoriert wurden, zu deren Urteilsbegründung keine Angaben vorliegen (736 Urteile). Das sind immerhin 23 Prozent der eigentlichen Gesamtmenge (3.255 Urteile). Korrekt müsste die zentrale Erkenntnis des Projektes somit heißen: Etwas mehr als die Hälfte (54 Prozent) aller Urteile wurden nachweislich wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen, wobei zu nahezu einem Viertel aller Fälle (23 Prozent) dazu keine Angaben gemacht werden können.
Diese systematische Schwäche des Beitrages von Klaus-Dieter Müller lässt sich mit dem Taschenrechner in der Hand beheben. Ergänzend gibt es zwei weitere Beiträge von Andreas Weigelt und Mike Schmeitzner, die eine qualitative Auswertung vornehmen. Weigelt schlüsselt in seiner Studie 99 Urteile gegen Angehörige des Polizeibataillons 304 auf. Dabei geht er ausführlich auf die nachweislich von diesen Männern begangenen Verbrechen ein. Weigelt stellt heraus, dass kein anderes Polizeibataillon bzw. keine Einheit der Wehrmacht für Massenverbrechen so intensiv einer Strafverfolgung unterzogen wurde: In 14 Prozessen wurden 90 Todesurteile gesprochen. Über die Gründe für diese Ausnahmestellung schweigt er sich aus. Aber zu Beginn seines Beitrages verweist er auf die dichte Überlieferung zur Strafverfolgung des Polizeibataillons 304 durch Akten des sowjetischen und DDR-Geheimdienstes. Ist sein Befund lediglich der guten Quellenlage geschuldet?
Schmeitzner widmet sich der zentralen Frage des Projektes, ob die sowjetischen Sieger eine konsequente Strafverfolgung der nationalsozialistischen Elite durchführten. Er rekurriert damit aber nicht nur auf das hinlänglich vorgestellte Ergebnis, dass sich die Todesurteile zu einem signifikant hohen Anteil gegen NS- und Kriegsverbrechen richteten. Vielmehr beginnt er seine Betrachtung des stalinistischen Terrors mit den Schauprozessen und den äußerst harten Urteilen, die sich im Widerspruch zur Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes in Nürnberg befanden. Er sieht einen Gegensatz zwischen harter Anwendung des Gesetzes, was als eine Mischung aus systembedingtem Terror und Sühne für NS-Verbrechen hergeleitet wird, und "Nützlichkeitserwägungen", denen zufolge die Besatzungsmacht einzelne Angehörige der ehemaligen NS-Eliten, die mit ihrem Wissen dem neuen Regime nützlich sein konnten, von einer konsequenten Strafverfolgung ausgenommen hat. Sein Ergebnis ist wenig überraschend. Es habe keine konsequente Abrechnung und auch keinen Automatismus gegeben, wonach Verantwortung tragende NS-Funktionäre selbstverständlich drakonisch bestraft worden wären. Die Härte der Urteile habe vielmehr in Abhängigkeit zu der gewünschten Öffentlichkeitswirksamkeit (Propaganda) und den "Nützlichkeitserwägungen" variiert. Die sowjetische Siegermacht verzichtete auf Todesurteile, wenn der Verurteilte mit seinem Expertenwissen noch Vorteile hätte bringen können. Diejenigen aber, von denen sich die sowjetische Seite keinen weiteren Nutzen versprach und die zudem durch ihre Funktion im NS-Regime wie auch persönlich zu verantwortender Verbrechen schuldig zu sprechen waren, wurden zum Tode verurteilt.
In der Gesamtkomposition des vorliegenden Buches geht nicht alles auf. Kernstück sind die Ergebnisse der Dokumentation zu den Todesurteilen Sowjetischer Militärtribunale. Das nimmt den allergrößten Teil der Studie ein und gelingt. In der Analyse aber zeigt der Band Schwächen. Das liegt zum einen an der Arbeitsweise einiger Autoren, vor allem aber daran, dass die gegenseitige Bezugnahme nicht gelingt. Alle Autoren häufen noch einmal viele Fakten an, aber eben nur für ihre Argumentation. So gerät der in seiner Dokumentationsleistung starke Band zu einer unstimmigen Collage.
Jörg Morré