Dirk Niefanger / Werner Wilhelm Schnabel (Hgg.): Positionierungen. Pragmatische Perspektiven auf Literatur und Musik der Frühneuzeit (= Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam; Bd. 4), Göttingen: V&R unipress 2017, 391 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0623-4, EUR 55,00
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Es kommt nicht häufig vor, dass man dem Altbestand der literarischen Überlieferung und ihrer Gattungen, seien es Epen oder Romane, Gedichte, Dramen oder sogenannte Sachprosa, der oft nicht allein im Kernbereich des jeweiligen Kanons seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten ohne nennenswerte Erweiterungen geblieben ist, eine Neuentdeckung hinzufügen kann. Aber der hier anzuzeigende Erlanger Sammelband hat einen solchen Fund zu bieten, von dem am Schluss die Rede sein soll, ehe zunächst über den Titel und die anderen Beiträge zu handeln ist.
"Positionierungen"? Wer mit den Konjunkturen in den Kulturwissenschaften nicht vertraut ist, der wird, wenn er einen Band mit diesem etwas gestelzten Titel nicht gleich beiseitelegt, fragen, wer oder was da welche 'Positionen' einnehmen möchte. Doch dem interessierten Leser kann geholfen werden und man kann ihm den einleitenden Beitrag der Erlanger Herausgeber empfehlen, aus dem er alles Nötige erfahren kann - vor allem dies, dass es sich beim Subjekt der Positionierung schlicht um den guten alten Autor dreht. Daher kann man von "auktorialen Positionierungen" als dem Oberbegriff der hier eingenommenen "pragmatischen Perspektive" auf die Kultur der Frühen Neuzeit sprechen, oder, wie eine erste Gegenstandsdefinition lautet: "Handlungen der Einordnung ins kulturelle Feld, der Selbstdarstellung, ja Selbststilisierung, der Besetzung von Standpunkten und Standorten im diskursiven Raum nennen die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes Positionierungen" (10). Deutlich ist dabei die Nähe zu der schon wieder etwas älteren Theorie des 'Performativen', und daher hier auch die Unterscheidung zwischen allgemein "sozialen" (22), "inszenatorischen" (24) und "diskursiven Positionierungen" (25). Auch die Anschlussfähigkeit an die in der Geschichtswissenschaft so prominente 'Praxeologie' wird nicht zu beteuern versäumt. Gewiss hat man, auch ohne Bekenntnis zum 'spatial turn'' vieles davon schon früher gesehen und untersucht, wenngleich ohne die von Niefanger / Schnabel exponierte Systematik und die dadurch vielleicht mögliche begriffliche Schärfung der einen oder anderen Fragestellung. Bemerkenswert ist aber doch: Der Autor, genauer gesagt: die Kategorie des personalen Autors, ist auch für die Erlanger 'Pragmatik' nicht länger tot, wie dies - erinnert man sich? - vor Zeiten eine Foucault-gläubige Literaturtheorie mit dem Tremolo des vollen Ernstes verkündet hat. Der Autor lebt also, und er positioniert sich.
Wie man sich das unter den begrifflichen Vorgaben der Herausgeber vorzustellen hat, wird am ehesten in deren eigenen Beiträgen deutlich: Niefanger handelt bei Barockautoren wie Gryphius, Greflinger und der Greiffenberg von Autorinszenierungen in allographen Paratexten und Autorbildern, und Schnabels Untersuchung trägt die Überschrift: Kriegspanorama. Literarische Imaginationen und ihre Positionierungsfunktion am Beispiel nichtkanonisierter Literatur - in beiden Fällen haben die Texte selbst erheblich mehr zu bieten als ihre ziemlich abschreckenden Titel befürchten lassen.
Dass nicht alle Beiträge im gleichen Maße oder überhaupt den einleitend exponierten Leitbegriffen und Fragestellungen verpflichtet sind, ist in derartigen Sammlungen nicht selten, zumal der Band "mehrheitlich" (30) auf Vorträge einer Tagung zum 75. Geburtstag von Theodor Verweyen zurückgeht, dessen Beitrag (mit Wolfgang Srb) über die kaum bekannte Epithalamien-Anthologie des hessischen reformierten Pfarrers Artus Vigelius (ca. 1573-1627) denn auch einen ganz ungewöhnlich großen Teil des Bandes einnimmt (51-221). Auf den Spuren eines hessisch-mitteldeutschen Späthumanismus werden die reichen Ergebnisse einer prosopografischen Erschließung dieser Anthologie minutiös dokumentiert und erläutert. Weitere Beiträge handeln von Literatur und Musik des Barock, ein Begriff, der hier wieder ohne Vorbehalte in Gebrauch zu sein scheint: Victoria Gutsche (Erlangen) schreibt über frühe Faust-Schriften, Ernst Rohmer (Erlangen) über "Plurimedialität" in der Barockpoesie, Wolfgang Hirschmann (Halle) über Musikalische Stilregister in den Arien Johann Pachelbels, und Novellistisches Erzählen bei Grimmelshausen und Christian Weise untersucht Jörg Krämer (Erlangen).
Doch den wichtigsten Aufsatz hat zweifellos Klaus Matthäus beigetragen, der eine utopische Erzählung vorstellt, die bis heute von der Forschung schlicht übersehen wurde und daher gänzlich unbekannt geblieben ist (Die Utopie eines Altdorfer Professors). [1] Dabei war der Text nicht unzugänglich: "Er liegt vielmehr quasi auf der Straße - nur hat ihn keiner aufgehoben, da er äußerlich eher wie ein Stück Makulatur wirkt" (298). Es handelt sich um eine Kalendergeschichte, die 1690-1700, also in 11 x 12 Folgen in Nürnberg (bei Endter) in einem Schreibkalender mit dem Titel Der Kleinen Atlantis- oder Zweyten Neuen Welt-Kalender erschienen ist. Der Bericht von den idealen Zuständen in Staat und Gesellschaft auf der utopischen Insel hat die Form eines Gesprächs "zwischen Eusebius, einem geistreichen Gottes-Lehrer, und Empirus, einem Welt-Erfahrnen und dabei gelehrten See-Mann von einer neu-entdeckten Insel, die kleine Atlantis genannt" (304), wie die Kolumnenüberschrift in allen Jahrgängen lautet. Die 'Kleine Atlantis' oder 'Zweite Neue Welt' mit ihrer Hauptstadt Semnopolis liegt hinter der (ersten) Neuen Welt, das ist Amerika (laut Bacon das 'Atlantis' Platons), mithin im nördlichen Pazifik, und ist zwei Tagesreisen per Schiff von Bensalem auf der Insel 'Nova Atlantis', der Wissenschaftsutopie Francis Bacons (New Atlantis, 1627), entfernt, wo sie bisher in einer schwarzen Nebelwand verborgen gewesen sei. Der Autor ist Johann Christoph Sturm (1635-1703), nach Jahren als Dorfpfarrer in der Grafschaft Oettingen seit 1669 Altdorfer Professor für Mathematik und Astronomie, einer der namhaftesten Schüler des großen Erhard Weigel in Jena. [2] Als Vertreter der 'gesunden Vernunft' in den Wissenschaften verachtete er zwar Astrologie und Kalendermacherei als Aberglauben, folgte aber dem einst von Kepler empfohlenen Kompromiss (1610) [3] und hat im Laufe seiner Altdorfer Zeit, anfangs noch als Pfarrer unter dem Pseudonym Alethophilus, immerhin vier erfolgreiche Jahreskalender herausgebracht, von denen die 'Kleine Atlantis' der vorletzte ist. All das und sehr viel mehr kann man bei Matthäus nachlesen, selbst einer der produktivsten Beiträger zu der seit Jahrzehnten besonders ergiebigen deutschen Kalenderforschung. [4] Der Text ist im Internet zugänglich unter: urn:ubn:de:hbz:6:1-64317, und ein Reprint ist geplant.
Anmerkungen:
[1] Misslich war vor allem, dass er auch in dem für die Utopieforschung noch immer maßgeblichen Handbuch nicht vorkommt, dem überaus reichhaltigen Band von Michael Winter: Compendium Utopiarum. Typologie und Bibliographie literarischer Utopien, Teil 1 [mehr nicht ersch.], Stuttgart 1978.
[2] Vgl. jetzt: Hans Gaab / Pierre Leich / Günter Löffladt (Hgg.): Johann Christoph Sturm (1635-1703), Frankfurt/M. 2004.
[3] Johannes Kepler: Tertius Interveniens. Warnung an etliche Gegner der Astrologie das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, hg. v. Jürgen Hamel, Frankfurt/M. 2004.
[4] Klaus Matthäus: Die Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens, in: Archiv f. Gesch. d. Buchwesens 9 (1969), Sp. 965-1396; ders.: Johann Christoph Sturm und sein Eitelkeiten-Calender, verfaßt unter dem Pseudonym "Alethophilus von Uranien", in: Acta Calendariographica, Kalenderreihen, Bd. 2, H. 1: Alethophilus von Uranien. Reprint, hg. v. Klaus-Dieter Herbst, Jena 2010, 19-54; und vgl. den Sammelbd.: Grimmelshausen als Kalenderschriftsteller und die zeitgenössische Kalenderliteratur, hg. von Peter Heßelmann, Bern 2011 (mit 3 Beiträgen von Klaus Matthäus).
Herbert Jaumann